Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Volkskrankheit Depression
Bielefeld (ots)
Wenn etwa vier Millionen Menschen in einem Land an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden, ist es höchste Zeit, dass die Gesellschaft die Notbremse zieht. Das Problem nicht nur am achten Europäischen Depressionstag an diesem Samstag zu benennen und nach jahrzehntelanger Ignoranz endlich ernst zu nehmen, ist ein längst überfälliger Schritt. Es ist aber nur der erste. Etwas in der Theorie zu erfassen, ist das eine. In der Praxis darauf zu reagieren, ist etwas ganz anderes. Das passiert in Deutschland immer noch nicht. Jeder spricht davon, dass die Gesellschaft von Leistungsdruck geprägt ist. Jeder dritte Schüler leidet laut einer Umfrage an depressiven Stimmungen. Immer mehr Menschen werden wegen psychischer Erkrankungen in Kliniken behandelt. Die Zahl hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Jeder fünfte junge Arbeitnehmer gibt in einer DAK-Umfrage den Job als Grund für Depressionen an. Was ist die Konsequenz aus diesen Fakten? Alle klagen über die dramatische Zunahme psychischer Erkrankungen. Der etablierte Druck im Berufsleben wird aber nicht eingeschränkt. Der einzelne Erkrankte muss sich einem einzementierten System aus Profitsucht beugen. Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Ärzte erkennen heute schneller eine Depression und bieten im Idealfall früher Therapiemöglichkeiten an. Das ist sicherlich auch ein Aspekt der rasant steigenden Patienten-Zahl in den Statistiken. Früher blieb das Leiden oft im Verborgenen. An dieser Stelle verbirgt sich aber auch die größte Schwäche im System. Die Diagnose ist ein Bereich, die Therapie der nächste zwingend erforderliche. Im Schnitt bekommt ein Patient jedoch erst nach zwölf Wochen einen Termin. 1,5 Millionen psychotherapeutische Behandlungsplätze stehen jährlich fünf Millionen Patienten gegenüber, die nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer schwer psychisch erkranken - vom Burnout-Syndrom über Depressionen bis hin zur Angststörung. Die Richtlinie zum Bedarf an Therapieplätzen stammt aus den 90er Jahren - völlig überholt. Hier muss nachjustiert werden. Umdenken müssen auch die Arbeitgeber. Nur selten bieten sie Maßnahmen zur Wiedereingliederung eines Mitarbeiters an, der wegen seiner Depression ausgefallen ist. Es gibt auch viel zu wenig Angebote, die es ermöglichen, während einer Behandlung im gewohnten Umfeld oder berufstätig zu bleiben. Gleichzeitig ist der volkswirtschaftliche Schaden durch Depressionen enorm. Er beträgt laut Gesundheitsreport 22 Milliarden Euro. Ein erkrankter Mitarbeiter leistet pro Tag eine halbe bis zwei Stunden weniger als ein gesunder Kollege. Arbeitgeber und -nehmer würden also von einer Reduzierung des Leistungsdrucks profitieren. Wird hier nicht umgesteuert, wird der Stress im Beruf die Deutschen weiter krank machen.
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