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Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum 17. Juni 1953

Bielefeld (ots)

Taksim-Platz, Tahrir-Platz, Potsdamer Platz: Die zwei großen Plätze in Istanbul und Kairo sind Inbegriff aufbegehrender, selbstbewusster Menschen, die sich nicht in ihr Leben hineinreden lassen wollen. Taksim und Tahrir stehen für ein Volk, das keine Angst vor selbstherrlichen Machthabern hat. Aber der Potsdamer Platz? Er war vor 60 Jahren der Resonanzboden eines heute fast vergessenen Rufes nach Freiheit, der erstaunlich viele Parallelen zum aktuellen Geschehen aufweist. Hier wie da versucht ein Staat zu gängeln, werden vermeintliche Provokateure aus dem Ausland haftbar gemacht und, damals wie heute, wird auf der Straße mit aller Härte von Staats wegen zugeschlagen. Am 17. Juni 1953 waren der Potsdamer Platz und die dort mündende Leipziger Straße das Zentrum eines unglaublichen Aufruhrs im jungen Arbeiter- und Bauernstaat. Zehntausende hatten schon vier Jahre nach dessen Gründung die Nase voll vom angeblichen neuen Deutschland. Auch dieser Aufstand entzündete sich an einem Bauprojekt. Der Funke sprang in kürzester Zeit auf 400 Orte und 600 Betriebe in der gesamten DDR über. So wie in der Türkei die Re-Islamisierung den Menschen eine Vorgeschmack auf die Scharia verschafft, so betrieb der SED-Staat damals die Intensivierung des Sozialismus. Bei aller Unterschiedlichkeit des religiös begründeten Islamismus und der marxistisch-leninistischen Ideologie haben beide Denkschulen am Ende überraschend viel gemein. Nahezu identisch erleben die Menschen eine unerbittliche Staatsführung, die stur und provokant gegen das eigene Volk vorgeht. Enteignungen, Zwangskollektivierungen und die Abschaffung letzter Reste von Meinungsfreiheit trieben 1953 die Menschen in der DDR auf die Straße. Das Fass zum Überlaufen brachte eine zentral verfügte Erhöhung der Arbeitsnormen. Sie wurde als das verstanden, was sie war: eine Gehaltssenkung um zehn Prozent. Der Aufstand endete mit dem Tod von mindestens 50, möglicherweise auch mehr als 100 Menschen. Es rollten Panzer und es sollte 36 Jahre dauern, bis viele den Ruf wagten: »Wir sind das Volk.« Der 17. Juni 1953 verblasst heute vor den beiden anderen Wegmarken Mauerfall und Wiedervereinigung. Gegen das Vergessen richten sich an diesem Wochenende zahlreiche Veranstaltungen. Das ist gut so. Es wird aber kaum mehr Wirkung haben als der Vorschlag, in Berlin neben der großen »Straße des 17. Juni« künftig einen kleinen »Platz des 17. Juni« zu haben. Im Westen wurde der arbeitsfreie Feiertag zugunsten des 3. Oktober abgeschafft. Im Osten mussten die Menschen 1990 erst wieder lernen, was 1953 in ihren Städten und Betrieben geschah. Dabei können alle Deutschen auf ihre Landsleute von damals mehr als stolz sein.

Pressekontakt:

Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

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