Kinderärzte fordern Antibiotika von Lauterbach - Verbandsfunktionär verlangt Liefersicherheit für vier Standardpräparate
Bielefeld (ots)
Kinder- und Jugendärzte kritisieren Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wegen des seit Monaten dauernden Antibiotika-Mangels. "Ich fürchte, dass Herr Lauterbach den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen hat", sagt Dr. Marcus Heidemann aus Bielefeld, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe, dem WESTFALEN-BLATT.
Es sei höchste Zeit, dass der Staat eingreife und im europäischen Ausland Antibiotika für Kinder beschaffe, die es in Deutschland wegen des Preisdumpings seit Monaten nicht mehr gebe. "Man nimmt uns die Möglichkeit, Kinder adäquat zu behandeln", sagt Dr. Heidemann.
"Wenn man überhaupt ein Antibiotikum bekommt, ist es oft zu breit, zu schmal oder gänzlich ungeeignet." Es gehe nicht nur um schwerkranke Kinder, sondern in der Masse um Kinder, die "normal" erkrankt seien, aber ohne die Mittel unnötig lange litten oder der Gefahr einer Verschlechterung ausgesetzt seien. "Bei aller Zurückhaltung mit Antibiotika - der Mangel ist für uns ein Massenproblem."
2007 von der Bundesregierung eingeführte Rabattverträge sorgen dafür, dass der Hersteller mit dem niedrigsten Preis quasi ein Monopol für die Lieferung bekommt und andere Hersteller die Produktion einstellen. Wenn dann die Lieferkette aus den Herstellerländern in Asien gestört ist oder die Margen etwa wegen stark gestiegener Glaspreise sinken, beliefern Hersteller vor allem Länder, in denen die Preise hoch sind - und Deutschland gehört nicht dazu.
Hier sind die Preise so niedrig, dass für die Pharmahersteller in Einzelfällen weniger als ein Euro übrigbleibt. Das Kinder-Antibiotikum Penhexal etwa gibt der Hersteller für 2,96 Euro an die Apotheke ab, muss von diesem Preis aber noch zum Teil zweistellige Rabatte an die Krankenkassen abführen. Lauterbach war 2007 Berater von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die die Rabattverträge einführte.
Dr. Heidemann: "Ich bekomme Anrufe von Kollegen aus dem ganzen Land, die nicht mehr weiterwissen." Ein Arzt aus Paderborn habe im Notdienst nur noch ein Reserve-Antibiotikum zur Verfügung gehabt, das man als Arzt nur ungern gebe. "Aber was sollen wir tun?" Kinderarztpraxen, bei denen eine Apotheke im Haus sei, bekämen oft schon morgens eine Liste mit den verfügbaren Medikamenten - wenn denn überhaupt welche verfügbar seien. "Dann fängt man an, im Kopf mit Dosen und Wirkstoffen zu jonglieren und sich zu überlegen, was für das Kind das Bestmögliche ist."
Oder man stelle den Eltern ein Rezept für das geeignetste Antibiotikum aus und schicke sie von Apotheke zu Apotheke. "Das geht aber nicht immer. Wenn hier eine alleinerziehende Mutter ohne Auto mit zwei Kindern sitzt, von denen eines Fieber hat, kann die nicht mit Bussen und Bahnen alle Apotheken abklappern!"
Kinderarzt Heidemann sagt, es gleiche manchmal einer Lotterie, welches Medikament ein Kind bekomme. "Ich hatte in meiner Praxis zum Glück noch nicht den Fall, dass ein Kind wegen eines fehlenden Antibiotikums in Lebensgefahr geraten wäre. Aber das kann jederzeit passieren."
Im Münsterland sind in den vergangenen Monaten zwei Kinder im Alter von ein und zwei Jahren mit Scharlach (Streptokokken-A-Infektion) gestorben, bei denen es Verzögerungen bei der Versorgung gegeben haben soll. Ein direkter Zusammenhang der Todesfälle mit fehlenden Antibiotika soll nach Angaben des örtlichen Kinderärztenetzes aber nicht nachweisbar sein.
Marcus Heidemann: "Es ist höchste Zeit, dass der Gesundheitsminister die Beseitigung des Mangels zur Chefsache macht. Wir Kinderärzte brauchen zumindest die Gewissheit, jederzeit die wichtigsten Antibiotika zu bekommen: Penicillin, Amoxillin, Cefaclor und Trimethoprim." Lauterbach solle die Mittel im Ausland beschaffen und von den Krankenkassen bezahlen lassen. "Da geht es nicht um große Summen." Es sei ihm völlig unverständlich, dass es ein Land wie Deutschland nicht schaffe, kranke Kinder mit Standard-Medikamenten zu versorgen.
Sebastian Sokolowski, Sprecher der Apothekerkammer Westfalen-Lippe in Münster, sagte , die Lage belaste auch die Apothekerinnen und Apotheker seit Monaten. "Sie können zwar im Einzelfall unter Vorlage eines Rezepts ein Antibiotikum aus dem Ausland importieren, aber das ist erst nach drei Tagen hier und damit viel zu spät." Ein Problem sei, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Situation rund um die Antibiotika bis heute nur als "Lieferengpass" bewerte, nicht aber als Versorgungsengpass". "Bei einem Versorgungsengpass darf zur Beschaffung fehlender Medikamente von den strengen Vorschriften des Arzneimittelgesetzes abgewichen werden." Dass dieses noch immer nicht erlaubt sei, habe möglicherweise politische Gründe, sagte Sokolowski.
Denkbar sei zum Beispiel, Apothekern zu erlauben, jeweils einen ganzen Wochenbedarf aus dem Ausland auf Vorrat zu beschaffen - auch ohne Vorlage von Rezepten.
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