Prävention darf nicht gegen Medikamentierung ausgespielt werden - und umgekehrt!
Berlin (ots)
30. Plattform Gesundheit des IKK e.V. / Das Ziel ist klar, der Weg bleibt offen / Politische Situation ermöglicht, das Gesundes-Herz-Gesetz zu überdenken
Prävention wirkt. Deshalb ist die Förderung von Gesundheit durch Verhältnis- und Verhaltensprävention richtig gedacht und auch sekundärpräventive Ansätze sind wichtig. Doch so einfach sich das formulieren lässt, sind doch der Weg dorthin und die dafür notwendigen Maßnahmen sehr viel differenzierter zu betrachten. Dies ist das Fazit der 30. Plattform Gesundheit des IKK e.V., die gestern in Berlin stattfand. Unter dem Titel "Medikamentierung versus Prävention" diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Gesundheitswirtschaft und Wissenschaft sowie rund 110 Gäste vor Ort und digital. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehen in dem durch das Ampel-Aus zu erwartenden Scheitern des Gesundes-Herz-Gesetz (GHG) die Chance, dass die Politik sowie alle Akteure mehr Zeit für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex bekommen. Dies sei auch dringend notwendig, könnten doch 70 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Prävention und Verminderung von Risikofaktoren wie ungesunde Ernährung, Bewegungsarmut und übermäßiger Alkoholkonsum verhindert werden.
Dem Gesundes-Herz-Gesetz fehle es an einem grundlegenden Verständnis der Ursachen, stellt Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger in seinem Impulsvortrag zu Beginn der Veranstaltung fest. Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen seien ein soziales Problem in ungleichen Gesellschaften. Daher gehe nach Ansicht des Professors an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld und Leiter der Arbeitsgruppe "Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie" eine erfolgversprechende Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nur über eine konsequente Umsetzung der Verhältnisprävention, also Gesundheitsförderung in allen Lebensbereichen (Health in all Policies). Gerlinger verweist darauf, dass Verhaltensprävention, also die Individualprävention, oft nur diejenigen erreichen würde, die es nicht benötigen. "Das führt schlimmstenfalls dazu, dass die Ungleichheit von Gesundheit noch gefördert statt nivelliert wird", so der Wissenschaftler. Er fordert: "Wir müssen deshalb wie die nordischen Länder viel stärker die soziale Ungleichheit in den Blick nehmen."
Diesen Ansatz mit Konzentration auf Verhältnisprävention unterstützt auch Wolfgang Beck, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt. In seinem Bundesland würden deshalb sowohl das Gesundheitsziel der Förderung von Bewegung sowie das der gesunden Ernährung verfolgt. Er führt als Beispiel die Herzwoche in Sachsen-Anhalt an, während der in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Herzgesellschaft, Praxen, Apotheken, Betriebe u. a. in über 150 Veranstaltungen verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen und Aktionen durchgeführt würden. Besonders wichtig sei die zielgruppenorientierte Kommunikation, um Kinder und Jugendliche zu erreichen. In Bezug auf das Gesundes-Herz-Gesetz formuliert der Staatssekretär den politischen Willen seines Ministeriums deutlich: "Wir wollen keine stärkere Medikamentierung. Wir setzen klar auf Prävention." Mit Sorge schaue man auf die im GHG vorgesehene Umwidmung von Präventionsmitteln der Kassen.
Die Sicht der Kassen auf das GHG sowie das Thema Prävention erläutert der Vorstandsvorsitzende des IKK e.V., Hans-Jürgen Müller: "Wir Kassen setzen auf einen Mix von individuellen Präventionsmaßnahmen, auf Setting-Angebote und Betriebliche Gesundheitsförderung." Der Bundesgesundheitsminister treibe stattdessen mit dem Fokus auf Medikamentierung die Sekundärprävention voran - mit weitreichenden Folgen für die wirksamen Primärpräventionsangebote der Kassen. "Im Entwurf des GHG sollen die vorgesehenen Leistungen wie Arzneimittel zur Tabakentwöhnung, die Präventionsempfehlungen durch die Ärzte und die erweiterten Gesundheitsuntersuchungen aus dem Topf für Gesundheitsförderung und Primärprävention nach § 20 SGB V gezahlt werden", erläutert Müller. Aber erstens seien die im Gesetzentwurf veranschlagten Kosten viel zu gering kalkuliert, und zweitens stünden angesichts der momentanen Finanzsituation der Krankenkassen für die ursachenbezogene Verhaltensprävention, die Lebensstil-Änderungen herbeiführt und Gesundheitskompetenzen aufbaut, dann keine Mittel mehr zur Verfügung.
Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, bringt die Diskussion aus Kassensicht auf den Punkt: "Das Gesundes-Herz-Gesetz stellt die richtige Diagnose, aber setzt auf die falsche Therapie." Hippler zeigt sich wie IKK e.V.-Vorstandsvorsitzender Müller ebenfalls erleichtert, dass das GHG in der vorliegenden Fassung aller Voraussicht nach nicht kommt und die Kassen weiterhin im Thema Prävention selbst aktiv sein können. "Wir werden unser Engagement weiter ausbauen", verspricht er. Hippler verweist dabei auf die Wirksamkeit von Betrieblicher Gesundheitsförderung zur Prävention von Erkrankungen bei Männern, die als Präventionsmuffel gelten, sowie bei Zielgruppen, deren Gesundheitschancen geringer seien. "Man sollte Prävention als einen Marathon begreifen, nicht als Sprint." Der IKK classic-Vorstandsvorsitzende fordert aber auch von der Politik, Lebensumstände zu verändern, um die Chance, gesund leben zu können, zu verbessern. Dabei sei aber ein Manko, dass Deutschland sich schwer damit tue, Lebenswelten zu regulieren. Hippler verweist dabei auf die Zuckersteuer, von der man aber wisse, dass sie sinnvoll sei.
Dr. Silke Heinemann, Leiterin der Abteilung 3 "Medizin- und Berufsrecht Prävention" im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), will die pauschale Kritik am GHG nicht stehen lassen. Sie stellt klar: "Die breite Medikamentierung, die oft in Diskussionen angeführt wird, steht so nicht im Gesetz!" Außerdem sei das GHG nur ein kleiner Baustein in einem großen Konzept. "Das Bundesgesundheitsministerium macht seit Jahren viel für die Prävention", stellt Heinemann fest. Mit dem Lebenswelten-Ansatz wisse das BMG durchaus, wie man die Zielgruppen erreiche. Außerdem stünde man dem Werbeverbot für Tabak und Alkohol sowie der Zuckerbesteuerung in ihrem Hause sehr positiv gegenüber. "Aber es gibt keine Mehrheit dafür!", erklärt die Abteilungsleiterin. Ein anderer Punkt macht für Heinemann jedoch den Wert des GHGs aus: "Auch wenn das Gesetz nicht kommt", sagt sie, "hat die Diskussion die gemeinsame Selbstverwaltung animiert, sich mit diesen wichtigen Themen zu beschäftigen."
Dr. med. Thomas Kaiser, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), relativiert die Kritik an der fehlenden Evidenz in den Arzneimittel-Passagen des GHG und verweist darauf, dass der Gemeinsame Bundesausschuss bereits entsprechende Änderungen an der Richtlinie zur Medikamentierung mit Statinen vorgenommen hat. Er kritisiert aber die flächendeckenden Screenings und sieht die vorgesehenen Einladungsschreiben als nicht zielführend an. Er würde es befürworten, wenn auf die in den Niederlanden gemachten positiven Ergebnisse mit Kaskadenmodellen gesetzt würde. Kaiser wirft dem Bundesgesundheitsminister vor, sich zu wenig auf Verhältnisprävention zu fokussieren. Der IQWiG-Leiter sagt dabei aber einschränkend: "Es ist nicht falsch, Dinge zu machen, für die man eine Mehrheit bekommt - anstatt sich auf Dinge zu fokussieren, für die es keine gibt. Unter den aktuellen politischen Bedingungen ist nicht alles möglich", so Kaiser.
Dr. Martina Kloepfer, Vorstandsvorsitzende Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf e.V., betont einmal mehr die Wichtigkeit des "Health in all Policies"-Ansatzes hinsichtlich der Änderung der Verhältnisse, also der Verhältnisprävention. Kloepfer verweist aber zusätzlich auch auf die Eigenverantwortung der Menschen selbst. Hierzu sei die Politik gefordert, die Gesundheitskompetenz gerade der jüngeren Generationen zu fördern. Von der neuen Bundesregierung wünscht sich die Vorstandsvorsitzende einen breiteren Blick auf Prävention. Die Frage hier laute, wann lohne sich Prävention hinsichtlich der Einsparmöglichkeiten und des Gesundheitsgewinns für das System insgesamt?
"Bei diesem komplexen Thema geht es nicht um ein 'entweder/oder'", stellt Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V., in seinem Schlusswort fest. "Ein Politik-Bashing hilft nicht weiter." Seiner Ansicht nach müsse man sich tatsächlich viel mehr auf das konzentrieren, was machbar sei. "Die Chance, die wir angesichts der jetzigen politischen Situation haben, ist, bei der Neueinbringung des GHGs in der nächsten Legislaturperiode, den Präventionsgedanken stärker nach vorne zu bringen und auch fehlende Bausteine zu berücksichtigen." Er verweist dabei beispielsweise auf die fehlende Evidenz und Datenlage. Vielleicht sollte man auch die weiterhin restriktiven Möglichkeiten der Datennutzung durch die Kassen hier miteinbeziehen, fragt sich Hohnl. "Jedenfalls müssen wir breiter denken und eine differenzierte Diskussion zulassen", resümiert er zum Abschluss der Plattform.
Hinweis für die Redaktionen: Eine Bildergalerie mit redaktionell frei verwendbaren Fotos der Veranstaltung finden Sie unter https://ots.de/SmxXWJ
Über den IKK e.V.:
Der IKK e.V. ist die Interessenvertretung von Innungskrankenkassen auf Bundesebene. Der Verein wurde 2008 gegründet mit dem Ziel, die Interessen seiner Mitglieder und deren 5,1 Millionen Versicherten gegenüber allen wesentlichen Beteiligten des Gesundheitswesens zu vertreten. Dem IKK e.V. gehören die BIG direkt gesund, die IKK Brandenburg und Berlin, die IKK classic, die IKK gesund plus, die IKK - die Innovationskasse sowie die IKK Südwest an.
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