"Report Mainz": Unkontrolliertes Abholzen in Schutzgebieten - Behörden fehlen Informationen und Personal
Mainz (ots)
ACHTUNG Sperrfrist Di., 21. November 2023, 5 Uhr!
Eingriffe in besonders geschützte Wälder in Deutschland finden oft ohne Kenntnis der unteren Naturschutzbehörden statt. Das legen Recherchen des ARD Politikmagazins "Report Mainz" nahe. Viele Behörden wissen demnach kaum, ob oder in welchem Ausmaß Bäume in den von ihnen beaufsichtigten Naturschutzgebieten vor Ort gefällt werden. Meist können die Forstverwaltungen, die unter anderem den Holzverkauf organisieren, eigenmächtig über die Eingriffe entscheiden. Die Frage, ob Baumfällungen negative Auswirkungen auf die Lebensräume bedrohter Tierarten haben oder haben können, entscheidet der Förster laut den in den meisten Bundesländern geltenden Regeln allein.
In einer nicht-repräsentativen Umfrage unter allen Landkreisen und kreisfreien Städten, an der sich 30 Prozent beteiligt haben, räumt mehr als jede dritte Kommune (36 Prozent) ein, dass sie über zu wenig Personal verfüge, um den Anforderungen des Bundesnaturschutzgesetzes nachzukommen, etwa indem sie geplante Baumfällarbeiten kontrollierten. Viele haben nicht einmal einen Überblick über Eingriffe in den Schutzgebieten im eigenen Zuständigkeitsbereich: Nur 28 Prozent der antwortenden Kommunen konnten konkrete Angaben zur Zahl der Eingriffe seit Januar 2022 machen. Demnach gab es im besagten Zeitraum mindestens 300 Eingriffe, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Nur jede fünfte Naturschutzbehörde konnte für denselben Zeitraum eine konkrete Zahl nennen, wie viele Bäume (in Festmeter) im geschützten Wald vor Ort gefällt wurden.
Natura 2000: Hohe Hürden für Eingriffe in die Natur
Schwerpunkt der Recherche waren staatliche Waldgebiete in Deutschland, die Teil des Natura-2000-Netzwerks der Europäischen Union sind. Dazu gehören alle FFH-Gebiete (Flora-Fauna-Habitat) sowie Vogelschutzgebiete. Laut Bundesamt für Naturschutz zählt Deutschland rund 5.200 FFH- und Vogelschutzgebiete, die zusammen gut 15 Prozent der Landfläche ausmachen.
In den geschützten Wäldern ist Forstwirtschaft - dazu gehören laut geltender Rechtsprechung zum Beispiel auch Maßnahmen gegen Borkenkäfer-Befall - zwar grundsätzlich erlaubt. Aber nur, wenn es für Arten und Lebensraum laut FFH-Richtlinie zu keiner "Verschlechterung" kommt. Störungen und erhebliche Beeinträchtigungen sind nach dem Bundesnaturschutzgesetz "unzulässig".
Nur wenige Prüfungen durch Naturschutzbehörden
In der Umfrage von "Report Mainz" haben 63 Prozent der teilgenommenen Kommunen angegeben, seit Januar 2022 noch nie eine FFH-Verträglichkeitsprüfung durchgeführt zu haben. Der Eingriff in ein FFH-Waldgebiet oder Vogelschutzgebiet folgt in der Regel einem zweistufigen Verfahren: In einer sogenannten Erheblichkeitsabschätzung entscheidet der Waldbesitzer bzw. Förster allein, ob ein geplanter Eingriff zu einer erheblichen Beeinträchtigung für die Artenvielfalt in dem Schutzgebiet führen kann oder nicht. Erst wenn er diese Frage bejaht, kommt es in einem zweiten Schritt zu einer sogenannten Verträglichkeitsprüfung, in die der Förster dann auch die Naturschutzbehörde mit einbinden muss.
Ist der einzelne Förster der Meinung, dass eine geplante Baumfällung keine erheblichen Beeinträchtigungen auf den Lebensraum der Tiere vor Ort hat, muss er die Behörden über seine Entscheidung nicht informieren. Das ergab eine Nachfrage bei allen Umweltministerien der 16 Bundesländer. Nur Baden-Württemberg, Niedersachen, das Saarland und Brandenburg geben an, dass es bei ihnen anders geregelt ist - etwa mit langfristigen Planungen, bei denen Naturschutzbehörden eingebunden seien.
Kritik von Naturschutzverbänden und Wissenschaftlern
Prof. Pierre Ibisch, Waldbiologe an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde, sieht die bestehenden Regelungen im Interview mit "Report Mainz" kritisch. "Vielen Förstern fehlt in manchen Fällen schlicht die ökologische Kenntnis. Wir brauchen dringend eine unabhängige Kontrolle und Prüfung von Eingriffen in Natura2000-Gebieten."
Auch Klaus Pukall, Forstwissenschaftler an der TU München, beobachtet Probleme beim Umgang des Forsts mit Schutzgebieten - aufgrund sich widersprechender Zielvorgaben der Politik: "Auf der einen Seite wird gesagt, wir brauchen jetzt so und so viel Festmeter Holz. Auf der anderen Seite ist die Forderung da, setzt bitte die FFH-Richtlinie vorbildlich um", so Pukall. Häufig werde dieser Konflikt auf den einzelnen Förster herunter delegiert. "Da braucht es also wirklich eine klare politische Linie, die sagt: FFH-Gebiete sind vorbildlich zu bewirtschaften, im Staatswald stehen Naturschutzziele im Vordergrund". Derzeit würden Förster im Konflikt zwischen Ökonomie und Naturschutz oft allein gelassen.
Bundesregierung sieht keinen Änderungsbedarf
In Bezug auf Baumfällungen in geschützten Wäldern sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf. Auf die Frage von "Report Mainz", wie viele Eingriffe es seit Januar 2022 in Natura-2000-Wäldern in Deutschland gegeben habe, können weder das Bundesumwelt- noch das Bundeslandwirtschaftsministerium konkrete Zahlen nennen. Dennoch schreiben beide Ministerien in einer gemeinsamen Antwort: "Nach unserem Kenntnisstand ist die Umsetzung bestehender gesetzlicher Regelungen in Natura 2000-Waldgebieten [...] grundsätzlich nicht zu beanstanden."
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