Sepsis in Deutschland: Bis zu 20.000 vermeidbare Todesfälle
München (ots)
In Deutschland wird die Sepsis dramatisch unterschätzt. Die Folgen sind bis zu 20.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr - oder 55 Tote pro Tag. Das Uniklinikum Greifswald zeigt mit seinem Programm "Sepsisdialog", wie man es besser machen kann. Die Sepsis ist weltweit die Nummer Eins unter den vermeidbaren Todesursachen.
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Vielleicht ist Greifswald nicht der Nabel der Welt. Doch in Sachen Sepsis hat sich die Stadt im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern einen Ruf erarbeitet, der weit über die Grenzen Deutschlands hinausgeht. Durch gezielte Qualitätsmaßnahmen ist es dort gelungen, die Sterblichkeit als Folge der Blutvergiftung gegenüber dem bundesdeutschen Durchschnitt deutlich zu senken. Dafür gab es im Jahr 2017 sogar den World Sepsis Award der Organisation Global Sepsis Alliance (GSA). Deren Mission: eine Welt frei von Sepsis.
Das dürfte ein langer Weg werden - und für Deutschland sogar ein besonders steiniger. Denn beim Management der Sepsis ist das Land im besten Fall nachlässig. "Die Folge sind 15.000 bis 20.000 vermeidbare Todesfälle durch Ignoranz", wie der Journalist Helmut Laschet in dem Artikel "Sepsis - ein deutscher Skandal" für den gesundheitspolitischen Informationsdienst Implicon schreibt. Seine Analyse: "Prinzipiell vorhandenes medizinisches Wissen wird nicht konsequent angewandt."
Sepsis: die fehlgeleitete Reaktion des Körpers auf eine Infektion
Sepsis ist, wenn Infektionen im Körper außer Kontrolle geraten; sie ist die aggressivste Form einer Infektion, ausgelöst durch Bakterien, Viren oder Pilze und deren Gifte. In dem Versuch, eine Infektion zu bekämpfen, kommt es zu einer übermäßigen Reaktion. Der Patient ist in dem Moment weniger durch den Angriff von Bakterien, sondern durch die fehlgeleitete Reaktion seines Körpers auf diesen Angriff gefährdet. Ursache können etwa Wund- und Harnwegsinfektionen, Lungenentzündungen, eine Bauchfellentzündung oder eine Grippe sein. Die fehlgeleitete Antwort kann in kürzester Zeit zu einem Versagen verschiedener Organe führen. Die Sterblichkeit, so die Autoren des Greifswalder Sepsisdialogs, liegt zwischen 20 und 50 Prozent. Sie ist damit deutlich höher als bei Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Eine Sepsis kann jeden treffen. Besonders gefährdet sind aber nicht nur Ältere, sondern auch Kinder unter einem Jahr oder Menschen mit chronischen Erkrankungen oder solche, denen eine Milz fehlt. Wie man einer Sepsis vorbeugt, wie man sie erkennt und behandelt, zeigt das Youtube-Video "Sepsis ist ein medizinischer Notfall": https://bit.ly/2Dz7tSd. Ist die Sepsis da, ist Zeit ein entscheidender Faktor.
Der deutsche Sepsis-Skandal fängt damit an, dass niemand die genauen Zahlen kennt. Offiziell geht man hierzulande von 233.000 Sepsis-Fällen jährlich aus. Andere Zahlen sprechen von mehr als 320.000 Betroffenen. Legt man Vergleichszahlen aus anderen Ländern zu Grunde - z.B. aus Krankenakten in den USA oder Schweden - könnten es aber auch 410.000 bis 571.000 Fälle sein. Nun könnte man meinen, dass in einem Land, in dem es zu jedem Vorgang eine Akte gibt, die Zahl der Sepsis-Betroffenen leicht feststellbar sein müsste. Das ist aber nicht so. Denn landet ein Patient auf der Intensivstation, kann es zwar sein, dass seine Beatmung dokumentiert ist, nicht aber die dahinterliegende Ursache. Die Sepsis verschwindet aus den Akten. Eine hohe Dunkelziffer sorgt dafür, dass sie als Krankheitsgeschehen unterschätzt wird. Fehl- und Unterdokumentation ist einer der größten Feinde im Kampf gegen Todesfälle, die eigentlich nicht sein müssten.
Andere Zahlen hingegen kennt man: Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Mortalitätsrate infolge einer Sepsis in Deutschland mit rund 42 Prozent hoch. In Großbritannien etwa liegt sie bei 32, in den USA bei 23,5 und in Australien bei rund 18,5 Prozent. Woran das liegt, darauf gibt eben das erwähnte Beispiel Greifswald eine Antwort. Der Sepsisdialog ist ein Qualitätssicherungsprogramm. Das Team um Dr. Matthias Gründling setzt auf:
- konsequente Schulungen und Fortbildung von Ärzten und Pflegekräften - Datenerfassung und Auswertung inkl. der Entwicklung eines eigenen Computerprogramms - konsequentes Screening der Patienten - Fallbesprechungen und Feedback - Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit - Antibiotikagabe innerhalb einer Stunde - eine Vollzeitkraft als Sepsisschwester.
Die Ergebnisse sind beeindruckend: Die Sterblichkeit in Greifswald ist von rund 45 Prozent (2014) auf 31 Prozent (2017) gesunken - das bedeutet eine relative Senkung der Sterblichkeit um ein Drittel. Übertragen auf den bundesdeutschen Maßstab bedeutet das, dass 15.000 bis 20.000 Todesfälle vermieden werden könnten. "Im internationalen Maßstab ist Greifswald kein Wunder, sondern Ergebnis sorgfältiger Qualitätsarbeit, die offenbar in den Gesundheitssystemen anderer Länder einen wesentlich höheren Stellenwert hat", schreibt Laschet im Implicon.
Auffallend ist, dass sich mit der Umsetzung des Qualitätssicherungsprogramms die Sepsis-Fallzahlen in Greifswald zunächst verdoppelten. Es ist das Ergebnis konsequenten Screenings der Patienten und dürfte ein weiterer Hinweis darauf sein, wie viele Sepsisfälle gar nicht erst als solche erkannt werden. Symptome einer Sepsis werden oft anderen Krankheiten zugerechnet - ein Fehler mit fatalen Folgen. "Die deutsche Praxis des Umgangs mit Sepsis verursacht tausendfach schweres Leid der Angehörigen durch vorzeitigen Tod ihrer Kinder, Ehepartner, Eltern oder Freunde", schreibt Laschet. "Überleben die Betroffenen [...] sind sie nicht selten lebenslang behindert: durch Hirnschädigungen, Gehörverlust oder Amputationen. Lebenspläne werden zunichte gemacht, vorzeitige Invalidität ist eine der gravierenden Folgen. Sepsis ist somit eine Krankheit, die nicht nur innerhalb des Gesundheitswesens erhebliche Kosten verursacht, sondern gesamtgesellschaftlich hohe monetäre und nicht monetäre Schäden anrichtet."
Der Sepsis-Skandal: in der Politik noch nicht angekommen
In der Gesundheitspolitik ist die Problematik nur teilweise angekommen. Immerhin: Auf Antrag der Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) wurde die Entwicklung eines Qualitätssicherungsverfahrens beschlossen, das zukünftig für Kliniken in Deutschland verpflichtend gelten soll. Doch bis es umgesetzt ist, dürften Jahre vergehen.
Einen Beitrag allerdings können alle leisten: sich impfen lassen. Denn die beste Vorsorge gegen die Sepsis ist die Vorbeugung einer Infektion - und genau das können Impfstoffe. So weisen medizinische Leitlinien aus, dass Menschen, die ihre Milz verloren haben, unbedingt gegen Pneumokokken, Meningokokken, Haemophilus und Grippe geimpft sein sollten, weil sie ein erhöhtes Risiko für lebensbedrohliche Infektionen haben. Die Realität sieht anders aus - es ist nur ungefähr die Hälfte dieser Personengruppe geimpft. Ein Trauerspiel sind hierzulande auch die Durchimpfungsraten gegen Grippe - bei Menschen über 65 Jahren sind es gerade mal ein Drittel, die sich für den Impfschutz entscheiden.
Unkenntnis, mangelhafte Organisation, eine laxe Präventionspolitik und ihre Impflücken - all das sorgt tagtäglich in Deutschland für 55 Tote, die nicht sterben müssten. Sepsis gilt weltweit als die Nummer Eins unter den vermeidbaren Todesursachen. Das Beispiel Greifswald zeigt eindrucksvolle und machbare Verbesserungen. Noch einmal Laschet: "Es ist nicht nachvollziehbar, warum es Jahre dauern muss, dies zu einem verbindlichen Standard zu machen."
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