Berliner Morgenpost: Bahnchef Mehdorn zieht die Notbremse - Kommentar
Berlin (ots)
Sind sie denn nun sicher, die ICE-Züge der Deutschen Bahn, oder nicht - oder nur ein bisschen? Zurzeit kann niemand auf diese Frage eine klare Antwort geben. Niemand weiß, wann der nächste Riss an einer der Achsen entdeckt wird und was geschieht, wenn ein Radsatzlager bei Tempo 300 bricht. Seit dem 9. Juli dieses Jahres, als ein ICE 3 im Kölner Hauptbahnhof nach einem Achsbruch entgleiste, wird nach den Ursachen des Unfalls geforscht, aber Ergebnisse gibt es noch immer nicht. Hilf- und fast schon wahllos ordnete das Eisenbahnbundesamt (EBA) immer kürzere Prüfintervalle für die Züge an. Die Bahn dagegen ließ vorübergehend das Wasser aus den Bordtoiletten mancher Züge ab, um so die Achslast zu mindern. So sieht Krisenmanagement im deutschen Schienenverkehr aus - es kann einem tatsächlich Angst und Bange werden. Doch nun hat Bahnchef Hartmut Mehdorn die Notbremse gezogen. Er schickt einen Großteil seiner ICE-Flotte zur außerplanmäßigen Inspektion. Die Folgen müssen die Fahrgäste ausbaden, weil Züge, die im Depot stehen, im Regelverkehr eben fehlen. Wieder einmal werden Zigtausende die Bahn verflucht haben, aber Hand aufs Herz: Hatte Mehdorn eine Wahl? Soll er Züge durchs Land fahren lassen, die theoretisch ein Sicherheitsrisiko sein könnten? Natürlich nicht, diesmal hat der Bahnchef richtig entschieden. Man fragt sich allerdings, warum er sich damit so lange Zeit gelassen hat und warum es für die Fahrgäste keine Vorwarnung gab. So konnten weniger Bahnkunden auf die Engpässe reagieren und mancherorts war ein Tohuwabohu, das nicht hätte sein müssen, perfekt. Aber vielleicht hat Mehdorn genau das bezweckt, vielleicht wollte er den Eklat, damit alle Beteiligten im Land, die für die Sicherheit der ICE-Züge verantwortlich sind, endlich aufwachen. Die sind nämlich seit dem Sommer vor allem damit beschäftigt, sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben oder die Angelegenheit zu Tode zu prüfen, ganz so, als sei es völlig wurst, ob und wie die Züge derzeit durch das Land brausen. Die Hersteller Siemens, Bombardier und Alstom weisen jede Verantwortung von sich und verweisen auf das EBA, nach dessen Norm alles hergestellt sei. Das EBA wiederum verweist auf die Staatsanwaltschaft Köln, die seit dem Unfall im Juli die Ermittlungen zur Ursache leitet und die ihrerseits auf die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, das die entscheidenden Erkenntnisse liefern soll. Wer da durchblicken will, kommt sich vor, wie der Buchbinder Wanninger. So lässt sich das ICE-Problem nicht bewältigen. Allen Beteiligten muss klar sein: Züge alle Nase lang zum Krisen-TÜV zu schicken, ist keine Lösung. Entweder die Sicherheit der Achsen wird umgehend und zweifelsfrei nachgewiesen, oder die Bauteile müssen ersetzt werden - der Streit um die Kosten ist programmiert. Aber Bahnfahren in Deutschland muss hundertprozentig sicher sein - und die Kunden müssen auch dieses Gefühl haben. Sonst steigen sie um.
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