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Berliner Morgenpost: Europa und die Türkei - Zeit für eine echte Bilanz

Berlin (ots)

Die Türkei hat es schwer mit sich selbst, und noch
schwerer mit der Außenwelt. Das Verfassungsgericht in Ankara hat die 
größte Kurdenpartei verboten. "Verbindung mit dem Terror" und 
"unzureichende Distanzierung von der Gewalt", so lauten die 
Hauptpunkte des Verdikts. Der Richterspruch hat im Innern, zumal in 
den südöstlichen Kurdengebieten, zu wütenden Reaktionen geführt und 
zu einer längst überwunden geglaubten Explosion der Gewalt auf den 
Straßen.
Die hochpolitische Entscheidung der Richter - nicht zum ersten Mal 
übrigens - wird im Ausland unüberhörbar missbilligt, am meisten 
seitens der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Da diese 
im Aufgabenkatalog für die seit bald einem Jahrzehnt laufenden 
Beitrittsverhandlungen der Türkei demokratische Umgangsformen 
abverlangt, müssen sich die Europäer überfahren vorkommen. Für den 
Fortgang der ohnehin notleidenden Verhandlungen ein schwerer 
Rückschlag, ja eine Blockade.
  Was ist passiert? Die Kurden zählen rund 20 Prozent der 
Bürger der Türkei, sehen sich aber in Sprache und Kultur, 
Aufstiegschancen und Zugang zu Medien von jeher benachteiligt. Für 
die amtliche Türkei waren sie - bis Erdogan zivilere Umgangsformen 
ankündigte - "Bergtürken" ohne Recht auf Eigenständigkeit. Denn 
kulturelle Besonderheit fügt sich nicht in das Staatsbild der 
modernen Türkei, die Kemal Atatürk nach dem Ersten Weltkrieg in einer
Revolution von oben ins Leben rief. Die jahrzehntelangen 
Guerillakämpfe, namentlich in den östlichen Provinzen, sind durch die
türkische Armee gewaltsam erstickt worden. Die Aktivisten wurden 
gefangengesetzt oder in den Untergrund gedrängt.
Seit einem Jahrzehnt kündigte sich ein liberalerer Kurs an. Aber die 
Erfahrung, dass auf der irakischen Seite der Grenze ein weitgehend 
autonomes, florierendes kurdisches Territorium sich etabliert hat, 
weckt unter den Türken alte, traumatische Befürchtungen vor 
Staatszerfall, moralisch und politisch. Kurdische Autonomie, gar ein 
südlicher Kurdenstaat passen nicht in das in Ankara gepflegte Bild 
einer modernen Türkei, die zwischen dem Westen, Russland und der 
muslimischen Welt alle Trümpfe in der Hand hält und Träume hegt von 
der Wiederkehr osmanischer Größe.
Den Europäern, die über den Beitritt der Türkei und dessen spätere 
Auswirkungen auf das Innenleben der EU sehr unterschiedlich denken, 
zwingen sich erneut schmerzhafte Fragen auf. Erst jüngst hat die 
Männerfreundschaft Erdogans mit dem iranischen Präsidenten 
Ahmadinedschad Misstrauen geweckt, ebenso wie die Absage der 
jährlichen Manöver mit den Israelis. Die EU vertritt noch immer den 
offiziellen Enthusiasmus, dass, wenn alle Kapitel abgehakt seien, 
eine neue Türkei ins Leben tritt. Das aber erfordert einen starken 
Akt des Glaubens.
 Es wird Zeit für schmerzhafte Bilanzen und für Ehrlichkeit der 
Europäer - mit sich selbst und mit den Türken.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost

Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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