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Mittelbayerische Zeitung: Testfall Chemnitz/Rechtsradikale versuchen, die Empörung über den Mord an einem Mann durch zwei Flüchtlinge zu instrumentalisieren. Auch Seehofer ist gefragt, Recht und Ordnung durchzusetzen.

Regensburg (ots)

Vielleicht war es eine der großen Selbsttäuschungen, die "König Kurt" Biedenkopf vor Jahren als Ministerpräsident den Sachsen bescheinigte: Sie seien "immun" gegen Rechtsextremismus. Den ausländerfeindlichen Demonstrationen, die Chemnitz seit dem Mord an einem Deutsch-Kubaner am Sonntag in Atem halten, folgen allerdings nicht nur hart gesottene Neonazis aus Sachsen und anderen Bundesländern, sondern auch ganz normale Bürger, die sich über den offenbar von zwei Flüchtlingen begangenen Mord empören. Allerdings ist es eine Sache, seiner Empörung, ja seiner Wut auf zwei mutmaßliche Mörder öffentlich Ausdruck zu verleihen. Diese Tat ist abscheulich, sie muss vorbehaltlos aufgeklärt, die Schuldigen müssen hart nach dem Gesetz bestraft werden. Keine Frage. Doch auf einem ganz anderen Blatt stehen Ausschreitungen, Gewalt, Angriffe auf anders aussehende Menschen, Ausländer, Flüchtlinge, auch auf Polizisten. Der Mord am Rande des Stadtfestes wird inzwischen fast nur noch als Anlass genutzt, den Rechtsstaat herauszufordern. Chemnitz ist zu einem Testfall geworden, wie weit ein von Rechtsradikalen gesteuerter Mob gehen kann. Chemnitz ist zu einer brandgefährlichen Herausforderung für den demokratischen Staat geworden, keine rechtsfreien Räume zuzulassen. Dabei ist auch und sogar in erster Linie der Bundesinnenminister gefragt. Dass Horst Seehofer zwei Tage brauchte, um sich zu den Vorfällen in Sachsen zu erklären, kann noch damit entschuldigt werden, dass er erst einmal ein genaueres Bild von den Vorgängen in Chemnitz haben wollte. Einfach in die überall wabernden Vermutungen, Gerüchte und Falschmeldungen im Netz hinein routinemäßig Betroffenheit über den Todesfall und Aufklärungswillen zu erklären, wäre auch zu wenig gewesen. Doch dass Seehofer nun in seiner gestrigen Stellungnahme so seltsam schwammig und diplomatisch-schaumgebremst bleibt, ist unverständlich. Dort, wo die rechtsstaatliche Ordnung in Gefahr ist, sollte ein Bundesinnenminister nicht nur lauwarm Unterstützung durch die Bundespolizei ankündigen, - Das ist doch das Mindeste! -, sondern er sollte sich vor Ort zeigen, sollte den offenbar überforderten sächsischen Behörden, der Polizei den Rücken stärken. Demonstrative Präsenz des Bundesministers für innere Sicherheit vor Ort wäre ein wichtiges Signal, dass sich der Rechtsstaat nicht auf der Nase herum tanzen lässt, dass Selbstjustiz und Angriffe auf die öffentliche Ordnung nicht geduldet werden, von wem auch immer, nirgendwo in Deutschland. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey macht es Seehofer übrigens vor. Sie fährt nach Chemnitz. Immer wieder Sachsen. Chemnitz reiht sich ein in eine Reihe von Ausschreitungen, die als an sich harmloser und berechtigter Bürgerprotest begannen, aber in der Folge rasch von Neonazis, rechten Fußball-Hooligans, Pegida-Ablegern instrumentalisiert und radikalisiert wurden. Die Spur führt zwar von Heidenau, Clausnitz, Bautzen, Dresden bis Polenz in Sachsen, doch es handelt sich nicht um ein rein sächsisches Phänomen. Dass nun ein aus Schwaben stammender AfD-Mann dazu aufruft, es sei "Bürgerpflicht, die todbringende Messermigration" zu stoppen, ist eine verbale Steilvorlage für einen radikalisierten Mob. Die Distanzierung der Berliner AfD-Spitze war nur halbherzig. Schlimme Ereignisse wie die von Chemnitz sind Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten. Berechtigter Zorn vieler Menschen wegen des Mordes Sonntagnacht wird politisch missbraucht. Allerdings muss sich auch jeder, der den rechten Rattenfängern in Chemnitz und anderswo hinterherläuft, fragen lassen, warum er oder sie das tun. Zivilcourage, die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie tun not, gerade wenn sie bedroht werden.

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