Westfalen-Blatt: zum 1. Mai
Bielefeld (ots)
Auf dem Balkon angrillen oder auf der Straße den Arbeitgebern einheizen: Für die meisten Arbeiter und Angestellten stellt sich diese Frage am 1. Mai 2014 nicht. Der »Tag der Arbeit« ist in Deutschland ein Feiertag, sogar gesetzlich verankert. Ein Kampftag ist er schon lange nicht mehr. Und sollten dennoch hier und da ein paar Fäuste gen Himmel gehen und das ein oder andere Arbeiterlied gesungen werden, dann ist das nicht mehr als Traditionspflege oder, um es mit einem Wort des Ex-Metallarbeitgeberpräsidenten Martin Kannegiesser zu sagen: Folklore. Heute kämpfen, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr Arbeiter gegen Bosse. Der Gegner sitzt stattdessen im konkurrierenden Unternehmen - nebenan oder in China. Er sitzt vielleicht auch in der modernen Technik, die die eigenen Produkte oder Dienstleistungen verdrängt. Dabei gibt es durchaus Arbeitnehmergruppen, die die volle Solidarität der anderen verdienten: die unterbezahlten Krankenschwestern und Pflegekräfte etwa, oder die Fahrer in einigen Paketzustelldiensten. Doch so lange streikende Lufthansa-Piloten mehr Aufmerksamkeit erfahren als die wirklich Benachteiligten, so lange sind die Solidaritätskundgebungen am 1. Mai eben nicht mehr als Folklore. Was die großen Themen der jüngsten Zeit betrifft, so sind die Gewerkschaften im Augenblick dabei, mehr zu erreichen, als sie vermutlich vor zwei, drei Jahren selbst zu träumen wagten. Der staatlich festgesetzte Mindestlohn kommt - möglicherweise zum Schaden der Betroffenen, von denen einige ihren Job verlieren werden. Ebenso wird das Renteneintrittsalter gesenkt - zum Schaden derer, die heute jung und deren Rente alles andere als sicher ist. Die Mehrheit der qualifizierten Arbeitnehmer geht in Deutschland einer guten Zukunft entgegen. Die weiter rückläufige Arbeitslosenzahl führt natürlich dazu, dass die Angehörigen vieler Berufsgruppen sich ihren Arbeitgeber aussuchen können. Trotzdem wird nicht jeder mit seinem Lohn zufrieden sein. Trotzdem wünschen sich die meisten mehr Urlaubstage. Trotzdem erhält nicht jeder Jugendliche den Wunschausbildungsplatz. Trotzdem gibt es Betriebe, in denen Arbeitnehmer gestresst und sogar gemobbt werden. Trotzdem gehen Firmen durch Missmanagement oder aus anderen Gründen Konkurs. Doch die Chance, dass Betroffene danach nicht in ein tiefes Loch fallen, ist größer geworden. Nicht von ungefähr haben die Gewerkschaften 2014 Europa als Thema für den 1. Mai gewählt. Das liegt nicht nur daran, dass es wegen der bevorstehenden Wahlen sicher besondere Aufmerksamkeit erfährt. Stattdessen ist auch den Gewerkschaften klar, dass die guten Bedingungen für den Arbeitnehmer in Deutschland schon in Griechenland nicht mehr gelten. Erst recht gilt das für ferne Produktionen etwa in Bangladesch oder China. Da, also international, hat der »Kampftag« 1. Mai noch seine Berechtigung.
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