Schwäbische Zeitung: Ohne Rituale geht es nicht - Leitartikel
Leutkirch (ots)
Wer 6,5 Prozent durch zwei teilt, der landet bei 3,25 Prozent. Die erste Zahl markiert die Forderung der Dienstleistungsgesellschaft Verdi in der aktuellen Tarifauseinandersetzung, die zweite Zahl wird - mit geringer Abweichung nach unten oder oben - irgendwann als Ergebnis dastehen. Das weiß die Gewerkschaftsspitze, das wissen die Verdi-Mitglieder, das wissen die Arbeitgeber: Es muss im Prinzip jedem klar sein, der die Tarifverhandlungen vergangener Jahre und Jahrzehnte verfolgt hat. Ein klassischer Kompromiss eben - im Sinne einer Harmonisierung widerstreitender Interessen durch vernünftige Menschen.
Wer sich diesen schlichten Umstand vor Augen hält, der muss sich eigentlich eben diese Augen reiben angesichts der ritualisierten Begleitmusik dieser und anderer Tarifverhandlungen. Da wird zunächst einmal auf beiden Seiten verbal aufgerüstet. Völlig realitätsfern seien die Verdi-Forderungen, sagen die öffentlichen Arbeitgeber. Einen Ehrensold für Krankenschwestern fordert Verdi-Chef Bsirske, dessen eigener Sold mutmaßlich nicht weit vom Sold honoris causa der früheren Bundespräsidenten entfernt ist. Es gibt Warnstreiks, und wenn es dumm läuft, folgen echte Streiks. Dann kommen ein paar Abrüstungsrunden, am Ende verkünden beide Seiten mehr oder weniger stolz ein Ergebnis, um das man hart gerungen habe, mit dem man aber gerade noch so leben könne. In diesem Falle also 3,25 Prozent plus/minus X.
Das wirkt alles ein wenig angestaubt, anachronistisch. Aber die naheliegende Frage: warum nicht gleich so? blendet etwas Entscheidendes aus. Sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände sind im Laufe der Zeit zu Organisationen mit eigenem Innenleben geworden. Nach außen müssen sie sich bei ihrer jeweiligen Klientel behaupten, indem sie bei Gelegenheit auf die Pauke hauen. Und diese Gelegenheit ist eben die klassische Tarifauseinandersetzung. Alles in allem ist das Land damit nicht schlecht gefahren. Also empfiehlt sich Gelassenheit.
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