Regieren ohne Mehrheit, PI Nr. 04/2025
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Regieren ohne Mehrheit
Wäre in Deutschland eine Minderheitsregierung denkbar? Der Konstanzer Politikwissenschaftler Sven Jochem erklärt die nötigen Voraussetzungen.
Deutschland vor der Bundestagswahl: Die Erfahrungen aus den letzten Wahlen zeigen, dass sich die Regierungsbildung zunehmend komplizierter gestaltet – auf Bundes- wie auf Länderebene. Auch für die bevorstehenden Neuwahlen zeichnet sich ab, dass es für die Parteien schwieriger wird, funktionsfähige Mehrheiten zu organisieren.
Wäre in Deutschland eine Minderheitsregierung denkbar, also eine Regierung ohne parlamentarische Mehrheit? Ein Blick auf die skandinavischen Länder zeigt langjährige Erfahrungen mit Minderheitsregierungen, die durchaus stabil sein können. Politikwissenschaftler Sven Jochem von der Universität Konstanz schildert, welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen.
Falsche Vorstellungen von modernen Minderheitsregierungen
Wenn wir an Minderheitsregierungen denken, schwebt uns zumeist das Bild einer Regierung vor, die wechselnde Bündnisse mit unterschiedlichen Oppositionsparteien sucht. Der Blick nach Skandinavien zeigt, dass diese Form der Minderheitsregierung zahlenmäßig eher rückläufig ist. „Die Minderheitsregierungen in Nordeuropa schließen zunehmend formalisierte Abkommen mit festen Partnern in der Opposition, durchaus vergleichbar mit den Koalitionsverträgen einer Mehrheitsregierung“, erläutert Sven Jochem. „Daraus formieren sich Bündnisse, die durchaus für die gesamte Legislaturperiode stabil bleiben können.“
Warum wird dann aber nicht gleich ein Koalitionsvertrag geschlossen und eine formale Mehrheitsregierung gebildet? Der Unterschied zur klassischen Regierungskoalition besteht darin, dass die Bündnispartner einer Minderheitsregierung weiterhin als Opposition auftreten können. „Die Unterstützungspartei verzichtet zwar auf den Amtsbonus, hat dadurch aber mehr Freiheitsgrade, sich als unabhängige, kritische Reformkraft im Parteienwettbewerb und in der Öffentlichkeit zu profilieren. Durch das Bündnis mit der Regierung kann sie zugleich aus der Opposition heraus ihren Einfluss auf das Regierungshandeln maximieren und so ihre politischen Ziele besser durchsetzen“, verdeutlicht Jochem.
Negativer Parlamentarismus als politische Spielregel
Damit eine Minderheitsregierung in Deutschland stabil funktionieren könnte, bedürfe es jedoch gewisser Rahmenbedingungen, betont Sven Jochem. „Die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden besitzen politische Spielregeln, die mit dem Begriff des ‚negativen Parlamentarismus‘ umschrieben werden. Auf einen kurzen Nenner gebracht bedeutet dies, dass eine Regierung gebildet, ein Gesetz verabschiedet werden kann, wenn nicht eine Mehrheit dagegen stimmt.“
Vereinfacht gesagt heißt das, dass Stimmenthaltungen – anders als zum Beispiel im Bundesrat – nicht als Nein-Stimmen interpretiert werden, sondern eben „neutrale“ Stimmen bleiben. „Ein Wandel vom positiven hin zum negativen Parlamentarismus würde in Deutschland das Regieren ohne feste Mehrheit erleichtern – vor allem für die Unterstützungspartei, die nicht mit einer Ja-Stimme ihre Position klar ausdrücken muss, sondern sich hinter einer neutralen Enthaltung verstecken darf“, führt Jochem aus.
„Exit-Strategie“ und rote Linien
Eine Minderheitsregierung ist nicht ohne Risiko. „Es besteht immer die Gefahr, dass die Opposition gegen die Minderheitsregierung Gesetze auf den Weg bringt“, schildert Jochem. Damit sie sich nicht von der Opposition erpressbar macht und vorführen lässt, benötige eine Minderheitsregierung daher eine „Exit-Strategie“, so Jochem, zum Beispiel die Auflösung des Parlaments als Druckmittel. In Nordeuropa ist die Auflösung der Parlamente meist einfach geregelt, anders als in Deutschland. Das gibt den skandinavischen Minderheitsregierungen ein wirkungsvolles Instrument in die Hand, um eine Notbremse zu ziehen – oder zumindest damit zu drohen.
Neben den institutionellen Gegebenheiten ist für Sven Jochem ein „weicher“ Faktor ganz entscheidend, damit eine Minderheitsregierung funktionieren kann: eine Kultur des informellen Austausches zwischen Politiker*innen verschiedener Parteien, wie man sie in Skandinavien beobachten kann. Durch informellen Kontakt wird persönliches Vertrauen aufgebaut, zugleich erleichtert er Vorsondierungen und Verhandlungen abseits der öffentlichen Bühne. Eines ist für Jochem mit einer Minderheitsregierung jedoch nur schwer vereinbar: „Regieren aus der Minderheit heraus ist kaum zu vereinbaren mit programmatischen ‚roten Linien‘ aller Art. Wer in dieser Form regieren will, der sollte ein hohes Maß an programmatischer Flexibilität mitbringen“, schließt Jochem.
Zur Person:
Der Politikwissenschaftler apl. Prof. Dr. Sven Jochem leitet die Arbeitsgruppe für empirische und normative Demokratietheorien an der Universität Konstanz.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Politik und Gesellschaft in den nordeuropäischen Ländern und Regionen, Minderheitsregierungen, wohlfahrtsstaatliche Reformen in Europa sowie empirische und normative Demokratietheorien.
Hinweis an die Redaktionen:
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Bildunterschrift: Politikwissenschaftler Sven Jochem, Leiter der Arbeitsgruppe für empirische und normative Demokratietheorien an der Universität Konstanz.
Bild: Jespah Holthof
Kontakt: Universität Konstanz Kommunikation und Marketing Telefon: + 49 7531 88-3603 E-Mail: kum@uni-konstanz.de
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