Leibniz-Institut für Bildungsverläufe
Interview mit Marcel Helbig: Wie soziale Segregation deutsche Städte prägt - neue Studie mit 153 Städten im Vergleich
Von Ostdeutschland bis zum Ruhrgebiet: Wie soziale Segregation deutsche Städte (unterschiedlich) prägt | Interview mit Prof. Marcel Helbig zu seiner neuen Studie
„Wenn die Gräben der sozialen Spaltung zu tief sind, können Städte so gut wie nichts mehr tun“
Wie ungleich Armut, Reichtum, Bildung und Ethnie in deutschen Städten verteilt sind, hat Prof. Dr. Marcel Helbig (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe) durch die Kombination verschiedener amtlicher Datensätze untersucht. Damit sind erstmals spezifische Vergleiche von 153 Städten in Deutschland möglich. Im Interview zu seiner Studie „Hinter den Fassaden“ beschreibt der Soziologe, in welchen Städten die Segregation zu- oder abgenommen hat, wie sich Kinder- und Altersarmut entwickelt haben und wo es regionale Unterschiede bei der Polarisierung von Armut gibt. Außerdem erklärt Helbig, warum ein angespannter Wohnungsmarkt die soziale Segregation in Städten verringern kann.
Was ist das Besondere an Ihrer neuen Studie?
Ich hatte erstmals die Möglichkeit mit kleinräumig vergleichbaren Daten für alle großen Städte in Deutschland zu arbeiten. Die Daten der Bundesagentur für Arbeit, die jetzt zusätzlich zu den Angaben der Kommunen zur Verfügung stehen, sind für alle Städte räumlich vergleichbar, weil sie auf einem einheitlichen Quadratkilometergitter basieren – für jedes Quadrat kann man genau sagen, wie viele Menschen dort leben und welchen sozialen Hintergrund sie haben. Damit sind erstmals Auswertungen möglich, die man als fairen Vergleich zwischen den Städten bezeichnen kann. Dazu kommt, dass sich mit den neuen Daten nicht nur die Verteilung von Armut beschreiben lässt, sondern auch von Bildungsabschlüssen und Einkommen. Zusammen mit den Hintergrundinformationen der kommunalen Daten – etwa zu Staatsangehörigkeiten, Altersgruppen, Anzahl von Wohnungen – konnte ich ein viel umfassendes Bild erstellen, als das bisher möglich war.
Welche Auffälligkeiten lassen sich im Hinblick auf die Verteilung von Armut, Bildung und hohen Einkommen in Deutschland generell beobachten?
Interessant ist erstens, dass sich Armut im Allgemeinen ungleicher in den deutschen Städten verteilt als hohe Bildung und hohe Einkommen. Zweitens ist die Armutssegregation nicht von der Größe der Städte abhängig. Es gibt sowohl kleine, als auch sehr große Städte, die eine hohe Polarisierung von Armut aufweisen. Die Bildungs- und Einkommenssegregation steigt hingegen mit der Größe der Städte. Am ungleichsten verteilen sich Akademiker und hohe Einkommensgruppen in Städten ab 500.000 Einwohnern.
Die ostdeutschen Städte stechen in den Rankings heraus – welche Besonderheit gibt es dort?
Gerade in den ostdeutschen Städten sind die Armutsquoten in fast allen Stadtteilen zwar deutlich gesunken, die Armutssegregation ist jedoch angestiegen, also die ungleiche Verteilung von Armen in einer Stadt. Konkret: Wenn ich weiß, wo in den ostdeutschen Städten die Großwohnsiedlungen – die sogenannten „Plattenbauten“ – stehen, dann weiß ich auch, wo die Armen wohnen und wo es wenige Akademiker:innen und wenige Hocheinkommensbezieher gibt. Diese soziale Spaltung zwischen Stadtteilen mit Plattenbauten und den anderen Quartieren ist in den letzten Jahren immer größer geworden. Je nach Stadt leben im Osten zwischen 25 und 50 Prozent der Gesamtbevölkerung in Großwohnsiedlungen. Diese wurden oft für die Arbeiter:innen der großen Kombinate gebaut und nach deren Zerschlagung kam es zu einer starken Abwanderung und einer Ballung von Arbeitslosigkeit. Und seit 2014 ist dann verstärkt der Zuzug, bzw. die Zuweisung, von Menschen mit Migrationsgeschichte in diese sozial benachteiligten Quartiere mit viel günstigem Wohnraum zu beobachten.
Gab es eine ähnliche Entwicklung auch im Ruhrgebiet?
Die Standorte der ehemaligen Zechen prägen die Städte des Ruhrgebiets städtebaulich sehr stark und die ehemaligen Arbeiterquartiere der Zechen sind heute die Armutsgebiete. Das Ruhrgebiet hat unter den westdeutschen Städten einen eigenen Entwicklungspfad eingeschlagen, der zu immer stärkeren Ungleichheiten führt. Und diese führen – noch viel stärker als bei den ostdeutschen Städten – zu einer Ballung von Armut, besonders von Kinderarmut. Heute sehen wir dort eine ganze Reihe von Stadtvierteln, in denen zum Teil mehr als die Hälfte der Kinder von Transferleistungen lebt.
Mit Hilfe der Daten konnte die Entwicklung der Kinderarmut gezielt untersucht werden. Was lässt sich dazu sagen?
Wir sehen große regionale Unterschiede. In der Vergangenheit haben vor allem die ostdeutschen Städte hohe Werte für die Ballung von Kinderarmut in vielen Stadtvierteln aufgewiesen, das ist zurückgegangen. Diese Bewegung sehen wir im Ruhrgebiet nicht, dort ist die Ballung von armen Kindern gleichgeblieben oder sogar noch angestiegen. Meine ursprüngliche Vermutung war, dass die Bevölkerung in den ostdeutschen Städten von der Einführung des Mindestlohns 2015 profitiert hat. Die Zahlen deuten aber darauf hin, dass es weniger am Mindestlohn lag, sondern die wirtschaftliche Entwicklung in den ostdeutschen Städten insgesamt besser war als in den westdeutschen und viele Eltern die Arbeitslosigkeit überwunden haben, so dass auch ihre Kinder nicht mehr auf Transferleistungen angewiesen sind.
Für Bayern und Baden-Württemberg zeigen die Daten hingegen andere Problemlagen.
Im Süden sehen wir eine geringere soziale Ungleichverteilung der sozialen Gruppen und keine so starke Dynamik wie in den anderen Regionen. Gleichzeitig gibt es nur sehr wenige Quartiere mit hohen Kinderarmutsquoten. Aber das wird erkauft durch extrem angespannte Wohnungsmärkte. Hier stellt sich insbesondere für die Mittelschicht die Frage, wo sie sich eine Wohnung leisten kann und weicht dadurch auch in Stadtteile aus, die sozial eher schlechter gestellt sind. Und das vermindert natürlich die soziale Ungleichverteilung.
Welche Rolle spielt Zuwanderung, besonders von Geflüchteten, in den letzten 10 Jahren?
Die Einwanderung bzw. Zuweisung von Menschen nicht-deutscher Herkunft in sozial benachteiligte Stadtviertel im Osten, Norden und im Ruhrgebiet führte zu höheren Segregationskennziffern ab 2014. In Süddeutschland und im Rhein-Main-Gebiet sieht man diese Ungleichverteilung von Zuwanderung nicht. Aber dazu muss ich sagen: Wir sehen ganz deutlich, dass der Haupttreiber für Segregation die unterschiedliche Wirtschaftskraft verschiedener Gruppen ist. Ärmere Menschen, ob nun mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit kommen zuallererst in Vierteln mit höherem Leerstand und geringeren Mieten unter.
Gleichwohl pendelt sich die sehr dynamische Entwicklung ab 2018 ein und erreicht ein Plateau. Generell lässt sich sagen: Die Struktur der Gruppe der Transferleistungsempfänger hat sich in den letzten Jahren so entwickelt, dass die Gruppe der Personen nicht-deutscher Herkunft unter ihnen deutlich zugenommen hat. Also: eine nicht-deutsche Herkunft zu haben, ist häufiger mit Armut verknüpft.
Bestätigen die Daten eine zunehmende Verschärfung der Altersarmut?
In Frankfurt zum Beispiel beziehen 10 Prozent der über 65-Jährigen Grundsicherung. Auch in anderen westdeutschen Großstädten ist die Quote ähnlich hoch. Aber gerade in den ostdeutschen Städten ist Altersarmut mit rund 2 Prozent kein Thema. Da sich die Grundsicherung im Alter auch an den Mietniveaus in den Städten orientiert ist diese in den teuren Städten meist besonders hoch. Zum anderen sehen wir, dass dort, wo es viele Altersarme gibt, in dieser Gruppe wiederum viele Menschen nicht-deutscher Herkunft sind. Das sind wohl vor allem ehemalige sogenannte Gastarbeiter:innen, die nicht so hohe Rentenanwartschaften aufbauen konnten und häufiger arbeitslos waren.
Lassen sich aus der Studie auch positive Entwicklungen ablesen?
Zum einen zeigt sich zwar eine gestiegene Armutssegregation in den ostdeutschen Städten, die Kinderarmutsquoten gerade in den am meisten benachteiligten Gebieten sind aber gesunken.
In den süddeutschen Städten sieht man zudem zwei Seiten einer Medaille auf dem Wohnungsmarkt. Es ist natürlich keine schöne Entwicklung, dass die Wohnungsmärkte dort so angespannt sind, aber auf der anderen Seite ist die Entwicklung dort dem Ideal einer sozial homogeneren Stadt ein Stück weit näher gekommen.
Was können Kommunen konkret gegen Segregation tun?
Wenn man es als politisches Ziel versteht, mit der Stadtentwicklung einer starken Polarisierung entgegenzuwirken, ist es wichtig, frühzeitig anzusetzen. Denn wenn die Gräben der sozialen Spaltung irgendwann zu tief sind, wenn sie für alle sichtbar wird, dann können Städte so gut wie nichts mehr tun. In der Studie zeigt sich, dass Segregation sich selbst verstärkt. Prinzipiell kann man sozialer Segregation nur entgegenwirken, wenn man in die Marktmechanismen eingreift. Mit dem Bau von Sozialwohnungen in Gebieten, in denen sich Arme die Miete sonst nicht leisten könnten, und mit der Förderung sozial benachteiligter Gebiete, so dass sie auch für einkommensstärkere Schichten attraktiv werden. Beide Modelle sind teuer und nur langfristig wirksam. Die meisten Städte wissen durch Sozialberichte ganz genau, wo ihre Problemlagen sind und versuchen, die potenziellen Folgen von Segregation und Armutsballung zu bekämpfen, beispielsweise durch Quartiersmanagement und Sozialarbeit. Die Situation des Wohnungsmarktes in einer Stadt trägt außerdem dazu bei, welche Handlungsmöglichkeiten Kommunen haben, beispielsweise um Investoren beim Bau neuer Wohngebiete dazu zu verpflichten auch einen Anteil von Sozialwohnungen zu errichten. Das funktioniert vor allem in Städten mit angespannten Mietmärkten.
Das Interview führte Iris Meyer
Inhalte der Studie
In der vorliegenden Studie wird untersucht, wie sich soziale Gruppen in Deutschlands Städten verteilen und wie sich ihre Verteilung in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat. Im Gegensatz zu früheren Studien wird in der vorliegenden Studie nicht nur die Verteilung von Armut und Ausländern betrachtet. Erstmals kann auch auf die ungleiche Verteilung von Bildung und höheren Einkommen in deutschen Städten eingegangen werden. Neben den Daten der Kommunalstatistik von 101 deutschen Städten wird dazu erstmals auf räumlich vergleichbare Daten der Bundesagentur für Arbeit für alle deutschen Städte zurückgegriffen, von denen die Daten für die 153 größten Städte analysiert werden.
In der Studie wird zunächst die Ungleichverteilung sozialer Gruppen in den deutschen Städten im Zeitverlauf analysiert. Hierbei wird erstens Armut anhand der SGB II-Bezieher, Kinderarmut anhand der Kinder in Bedarfsgemeinschaften und Altersarmut anhand er Grundsicherungsempfänger im Alter analysiert. Zweitens wird die Verteilung von Personen mit nicht deutscher Staatsbürgerschaft analysiert und dargestellt wie ethnischer und Armutssegregation zusammenhängen. Drittens wird die Ungleichverteilung von Akademikern und Personen mit höheren Einkommen an der Erwerbsbevölkerung untersucht. Darüber hinaus wird in der Studie multivariat untersucht, welche Stadtcharakteristika die unterschiedlichen Entwicklungspfade bei der sozialen Segregation erklären können. Im letzten Teil der Studie werden die geografischen Muster sozialer Ungleichverteilung untersucht.
Datengrundlage
Die verwendeten Daten dieser Studie entstammen zum einen der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). In diesem Datensatz werden die kleinräumigen Daten aus mittlerweile 56 Städten gesammelt und für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt. In einer Anfrage an eine Reihe weiterer Städte wurden Informationen zur Verteilung von SGB II-Empfängern, nicht-erwerbsfähigen SGB II-Empfängern (NEF), Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, Personen unter 15 Jahren, Personen von 15 bis 65 Jahren und Personen über 65 Jahren geliefert. Für die Städte, die Teil der IRB sind, liegen deutlich mehr Informationen vor als für jene 45 Städte für die zusätzlich Daten gesammelt wurden.
Insgesamt kann diese Studie auf kommunale Daten zu 101 deutschen Städten zurückgreifen. Die Größe der verwendeten Städte liegt dabei zwischen 40.000 Einwohnern (Eberswalde) und 3,7 Millionen Einwohnern (Berlin). Die verwendeten Daten beziehen sich dabei auf die Jahre 2002 bis 2021 (für die meisten Städte, die nicht der IRB entstammen, nur bis 2020). Daten zu den SGB II-Beziehern liegen erst ab dem Jahr 2005 vor. Zudem liegen die Daten nicht für jede Stadt und jedes Jahr vor.
Für die Studie hat die Bundesagentur für Arbeit Arbeitsmarktdaten auf Ebene von 1 x 1 km großen Gittern (Grids) für die Jahre 2013 bis 2022 zur Verfügung gestellt. Die Daten der Bundesagentur für Arbeit enthalten Angaben zu SGB II-Empfängern, Arbeitslosen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (SVB). Für die Arbeitslosenstatistik liegen, wie auch aus der SVB-Statistik Informationen zur Qualifikation der Personen (Akademiker vs. nicht Akademiker) vor. Für die SVB-Statistik wurden Daten zu Personen geliefert, die hohe Einkommen (über der Beitragsbemessungsgrenze) aufweisen.
Originalliteratur: https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2023/p23-003.pdf
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