Brief an einen Verstorbenen ...
Lieber Reinhard Wosniak,
wenn Du erlaubst, dass ich Dich so anrede, denn ich habe Dich in Deinem Leben leider nie getroffen und auch nicht persönlich kennengelernt. Wohl hatte ich als um wenige Jahre jüngerer Kollege von Dir zum ersten Mal 2018 oder 2019 erfahren. Aber da warst Du bereits ein schwerkranker Mann, der dann im Mai des Folgejahres gestorben ist, nachdem er seine Trilogie mit dem Roman 'Die Nacht der Ameisen' mit größter Mühe und Not vollendet hatte. Erst kurz zuvor hatte ich also von Dir als freiem Schriftsteller aus Ostdeutschland mit Tiefgang, Esprit und ganz eigenen Gedanken erfahren, was inzwischen eine Rarität ist. Denn nur sehr wenige in unserer Zeit verstehen es, eigene Gedanken zu entwickeln. Jedenfalls habe ich mich, da ich zwischenzeitlich nicht nur Deinen Lebenslauf, sondern auch einige Deiner Werke kennengelernt hatte, davon überzeugen können, dass dieses Urteil durchaus zutreffend ist.
Schon Dein 'Stilicho', Dein Erstling, hat mich vollauf überzeugt, dass Du ein großartiger Erzähler bist, dem es gelungen ist, einen solch komplexen Stoff, wie es Dein spätrömischer Untergangsromanheld Stilicho ist, zu diesem großartigen, aber leider kaum bekannten Epos zu konzipieren. Schon die historischen Studien und Mühen, diesen gewaltigen Plot in solch handwerklicher Stimmigkeit, dazu auf hohem sprachlichem Niveau und nicht minder in dichterischer Freiheit aufs Papier zu bringen, hat mich beeindruckt. Dasselbe gilt für Deine zwar kürzeren, aber dem Stilicho keineswegs nachstehenden Künstlernovellen, die unter dem Titel 'Pieta' erschienen sind. Das sind herrliche Lebensbilder von Michelangelo, Tizian und anderen Großen jener Epoche, die auch zeigen, wie sie sich ihre Kunst abgerungen haben und mit welchen Schwierigkeiten sie auch sonst im Leben zu kämpfen hatten.
Dies alles deutet an, dass jede große Kunst ihre tieferen Wurzeln hat und letztlich die Frucht großer Einsamkeit und mancher Konflikte und Leiden ist. Aber davon will unsere Zeit und Welt ja ohnehin nichts wissen und überspielt oder verdrängt das alles, als dürfte es das nicht geben. Die Postmoderne weiß eben nicht, dass gerade die Leiden die Menschen in ihrem Menschsein weiterbringen können, wenn sie angenommen und verarbeitet werden. Und davon dürfest Du selbst in Deinem Leben ja einiges zu tragen gehabt haben.
Was mir jedoch auffiel: Wieso greifst Du in Deinen Büchern so gerne auf historisches Material zurück? Du tust es auch in dem Buch 'Morbus', in dem Du Psychogramme, u. a. von Botticelli, Michelangelo, Rosso Fiorentino, Franz Schubert, Karl Philipp Moritz, Edvard Munch, August Strindberg und Antonin Artaud erstellst. Viele dieser Genies enden in Einsamkeit, Krankheit oder Wahnsinn.
Und wieso hast Du den Stilicho überhaupt geschrieben? Er war ja als aus Germanien stammender hoher römischer Offizier schließlich, - einem Arminius, dem Cherusker, vergleichbar, zum 'Reichsverweser' des römischen Westreichs aufgestiegen. Zweifellos ging es während der Zeit der Völkerwanderung(en) chaotisch zu im bereits in sich selbst verfaulenden verweichlicht-dekadenten Rom, das immer wieder, bevor ihm der Todesstoß versetzt wurde, am Abgrund gestanden hatte. Bist Du der Meinung, dass auch wir Heutigen am Abgrund stehen und "reif" für die Mülltonne sind? Manche Zitate aus 'Die Nacht der Ameisen', dem letzten Werk Deiner Trilogie, legen das nahe. Auch Du scheinst das Heil dieser Welt weder vom Fortschritt noch vom Menschen als solchem und seinen schwachen Möglichkeiten her zu erwarten.
Wie gerne würde ich Dich das alles noch fragen ... Denn Du lässt, wenn Du auf Deine DDR-Vergangenheit, zugleich aber auch Deine innere Distanz zum Westen und seinen usurpatorischen 'Heuschrecken' (bei Dir sind es stets die Ameisen!) durchklingen lässt, was in Deiner Romantrilogie ganz deutlich hervortritt, keinen Zweifel daran, dass damals mit der Wende Deiner Meinung nach einiges schiefgelaufen sein muss, ja ist.
Äußerungen wie "Die Ameisen haben die Probe bestanden, sie können jederzeit kommen und jederzeit übernehmen - gerade, weil sie keine Zeit kennen ... Stellt euch die Ruhe vor, die über die Erde kommen wird; die Ameisen können nicht mal singen ..." [und Humor haben sie - möchte ich hinzufügen - auch keinen ...]
Und auch das hast Du richtig gesehen, vielmehr erkannt, wenn Du schreibst: "Die Sieger waren nicht die Gewinner." Allerdings schränkst Du das gleich wieder ein, oder ist es am Ende vielleicht doch eine Litotes, wenn Du sagst: "Entscheidender Unterschied zu uns: Man schert sich dort unten nicht um das verlogene Alibi der Moral. Es gibt keine Gutameise."
Ich denke, dass mein heutiger Brief der Beginn einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Ost und West ist, weil eben doch noch nicht alles längst abgelegt und katalogisiert ist, was erzählt werden kann.
Dein Hubert Michelis
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