Alle Storys
Folgen
Keine Story von Spica Verlag GmbH mehr verpassen.

Spica Verlag GmbH

Von Flip-Flops aus Reifen abgeschossener Flugzeuge und dem Bundesverdienstkreuz - Ein Nachruf

Von Flip-Flops aus Reifen abgeschossener Flugzeuge und dem Bundesverdienstkreuz - Ein Nachruf
  • Bild-Infos
  • Download

Liegt in der heutigen Zeit ein Brief im Kasten, beinhaltet er in den meisten Fällen weniger gute Nachrichten. Da sich das Briefeschreiben im Regelfall durch den wesentlich schnelleren Zugang von E-Mails überholt hat, erhält ein Briefempfänger heute zumeist Informationen, die diffuses Unwohlsein verursachen.

So geschehen dieser Tage im Verlagsbriefkasten. Seither liegt und liegt die traurige Nachricht auf meinem Schreibtisch und wartet darauf, dass ich diese Zeilen schreibe.

Dieses Verhalten erklärt sich wohl nicht zuletzt daraus, dass ich mich einreihe in den Kreis der nächsten Generation, die gehalten sein wird, ihr Erdendasein zu beenden und dahin zurückzugehen, woher sie gekommen ist. Oder folgt doch nur Dunkelheit? Sie merken sicher, das mich die Suche nach genau dieser Antwort herumtreibt.

Aber das war nicht immer so, denn wähnt man doch -aus kindlicher Sicht betrachtet- sein eigenes endliches Dasein, in unendlicher ferner Zukunft. Vielleicht lag das daran, dass ich in einem sehr guten Elternhaus und noch besser behüteten großelterlichen Haushalt aufgewachsen bin. Fern von Angst und Schrecken, aber zeitgleich, denn es tobte damals der Vietnamkrieg. Jegliche Vorstellung von Krieg, seinen Auswirkungen, in Form von Mord und anderen physischen und psychischen Leid, war mir damals fremd, denn meine Großeltern väterlicherseits hatte ich niemals kennengelernt. Sie waren vor meiner Geburt gestorben, mein Großvater, als Opfer einer Denunziation, in einem Internierungslager an einer Sepsis, worin sicher die Ursache des frühen Herztodes meiner Großmutter liegt.

Das Bild der drei kleinen Kinder, die vor ihrer auf der Couch liegenden toten Mutter standen, wird sich eingebrannt haben, in die Seele ihrer Schwester. Hatte sie, selbst Mutter von fünf Kindern, nun Stellvertreterinnenfunktion.

Doch davon wusste ich damals noch nichts, denn meine Eltern und Großeltern schwiegen eisern über ihre Kriegserlebnisse und das sollte sich bis zum Tod des Letztversterbenden von ihnen auch nicht ändern. Statt dessen erfüllten mir durch den Kauf von Flip-Flops (die aus Vietnam stammten und von denen in der DDR kolportiert wurde, dass sie aus den Reifen von abgeschossenen amerikanischen Flugzeugen stammen würden) einen meiner damaligen "Seeligkeitsding-Wünsche" und unterstützten mich, wenn ich Altstoffe sammelte, um Geld zu spenden. Da das damals alle Schulkinder taten, war das Ergebnis meiner Sammelbemühungen, manchmal kläglich, doch dann "stockten" sie auf und auf diese Weise konnte ich (auch in ihrem Namen) Solidarität mit den Kindern von Vietnam üben...

Ganz anders als das Leben in der DDR, gestaltete sich das von Jürgen Haese. Geboren 1934 in Elbing/Westpr. studierte er Sozialphilosophie, Publizistik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und promovierte zum Dr. phil. Autor und Regisseur. Es folgten Filmproduktionen im In- und Ausland für Fernsehanstalten und öffentliche Auftraggeber. Für seine politischen Imagefilme und seine kulturhistorischen Dokumentationen über das geteilte Deutschland erhielt er nationale und internationale Auszeichnungen, u.a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Seit 1999 war es freier Autor, Fotograf und Ausstellungsmacher. Er lebte in Lübeck und publizierte seit 2000: „Warten – Orte des Erinnerns“, Essays und Fotos, 2002. „Der Riss – Vom Sterben der Wörter“, DeCollagen 1980 – 2004, Essays und Fotos. „Fremd in Asien“, Reflektionen, 2011. Autobiografische Romane: „Der Lohnschreiber“, 2004. „Verloren in Elblag“, 2007.„Sing, Nachtigall, sing.“, 2010. Eine Jugend in Berlin – 1948 - 1963.

Kurz bevor „Enos - Spuren des Krieges" 2014 in unserem Verlag erschien, bin ich auf der Buchmesse in Frankfurt vor Ausstellungsbeginn durch die Hallen gewandert, um mich an der Schönheit von Büchern anderer Verlage zu erfreuen, als mein Blick von einem ganz besonderen Buchcover gefangen wurde. Abgebildet war ein Gesicht, das eigentlich aus zwei Gesichtern bestand.

So inspiriert, hätte ich gerne Enos auf dem Buchcover von Jürgen Haese abgebildet gesehen, die Haare blond, ab Augenpartie das Gesicht ins Asiatische verlaufend. Doch es sollte bei meinem Wunsch bleiben, denn Jürgen Haese hatte eigene Covervorstellungen: Es sollte eine Kriegsszene abgebildet werden, sein Wunsch wurde verwirklicht und so erschien der Roman.

"Es geht um Vietnam, das ist lange her. Nur ältere Leserinnen und Leser verbinden mit dem Vietnamkrieg etwas, das uns hier und jetzt angeht, so wie Jürgen Bertram, der das Vorwort geschrieben hat. Aber es steckt noch ein anderes, größeres Thema darin. Nicht allein der Pazifismus, die Auseinandersetzung mit den Schrecken des Krieges, um die es vordergründig geht, sind die Substanz dieser Geschichte, sondern vor allem die einfache Frage: Wer bin ich?

Identitätssuche, ein Leben zwischen den Kulturen, die Konfrontation mit den Fremden und mit der Fremdheit, das sind Themen, die heute sogar relevanter sind als in der Zeit des Vietnamkriegs. In Zukunft werden uns solche Themen noch mehr beschäftigen." Als Ingo Helm nach der Buchlektüre seine Rezension auf Amazon veröffentlichte, war von der ungebremsten Flüchtlingswelle noch wenig zu spüren. Sowenig sein Wunsch nach einer möglichst großen Leserschaft bislang in Erfüllung gegangen ist, desto mehr hat er mit seiner Einschätzung ins "Schwarze" getroffen.

"Die wachsenden Flüchtlingsströme zeigen: Es gibt keine fernen Erdteile mehr, keine fremden Kulturen, die uns nichts angehen. Und jeder der Millionen Migranten, jeder „Bastard“ ist ein Mensch mit einer bewegenden Geschichte. Enos ist nicht allein, es gibt immer mehr Schicksale wie das seine. Es lohnt sich, dem ins Auge zu sehen. Auch deshalb sind dem Buch viele Leser zu wünschen."

Wie Recht I. Helm auch hat, aber nach der spannenden Buchlesung in Leipzig blieb Jürgen Haese nicht mehr allzu viel Zeit etwas für "Enos" zu tun. Mit einem Unfall, wie er zum Lebensende viele ältere Menschen trifft und dem eine lange schweren Krankheit folgt, begann sein Leidensweg, von dem ihn nun der Tod erlöst hat.

"Ruhe in Frieden, Jürgen Haese", denke ich und bin voller Mitgefühl bei seinen Angehörigen.

Heute Nachmittag werde ich -im Gedenken- an seinem Grab eine weiße Rose ablegen, so wie ich es auch bei meiner Mutter, Großmutter und meinem Vater getan habe.

Doch heute lege ich ein Exemplar des wertvollen, wenngleich auch noch unbeachteten Buches dieses großartigen Menschen dazu. Ich werde mich dann mit einem Lächeln an ihn erinnern, denn ich tue es ja nur in Gedanken und damit werde ich die Trauergemeinschaft ganz gewiss nicht so erschrecken, wie ich es getan habe, als ich mich von meinen über alles geliebten Großvater verabschiedet habe. Auf dessen Sarg landete polternd die Goldmedaille, die ich am Wochenende vor seiner Beerdigung gewonnen und nun ihm gewidmet hatte.

Ich verabschiede mich für heute von Ihnen und lade Sie ein, mit einem Lächeln im Gesicht, die Worte, die die Trauergemeinde der Todesnachricht von Jürgen Haese vorangestellt hat und die von Erich Fried (1957) stammen, zu lesen:

Worauf soll ich hoffen?

Auf nichts.

Wie soll alles enden?

Wie alles.

Herzlichst

Ihre Kathrin Kolloch

Spica Verlag GmbH

Herr Peter Kolloch

Liepser Weg 8

17237 Blumenholz

fon  ..: +49 (0)395 / 57 06 89 19 
web  ..: https://spica-verlag.de/
email :   presse@spica-verlag.de