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Der Tagesspiegel

Der Tagesspiegel: Brief des Bundeskanzlers Schröder an den Alt-Bundespräsidenten Weizsäcker zu dessen 85. Geburtstag, der dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt

Berlin (ots)

Lieber Herr von Weizsäcker,
zu Ihrem 85. Geburtstag gratuliere ich Ihnen ganz herzlich.
Ihre außerordentlichen Leistungen für unser Gemeinwesen und ihr
einzigartiges politisches Lebenswerk sind in den vergangenen Jahren
wiederholt gewürdigt worden. Dabei sind insbesondere - und ich betone
zu Recht - Ihre politische Haltung, Ihr Gemeinsinn und Ihr
aufgeklärter Patriotismus hervorgehoben worden.
Glaubwürdigkeit, Liberalität, Vernunft, Kompromissfähigkeit und
Prinzipienfestigkeit haben Sie schon immer ausgezeichnet und Ihr
Wirken in den verschiedensten politischen Funktionen über viele
Jahrzehnte bestimmt. Gerade diese Eigenschaften sind es gewesen, die
während Ihrer Amtszeit als Bundespräsident gewissermaßen eine
zusätzliche Bedeutung erfahren haben. In diesen bemerkenswerten zehn
Jahren sind Sie für die Deutschen in eine besondere Rolle
hineingewachsen. Sie wurden zu der moralischen Autorität in unserem
Land, zu einer wirklich überparteilichen Integrations- und
Identifikationsfigur für die Menschen in Ost und West. Sie haben das
repräsentiert, was für eine Demokratie auf den ersten Blick wie ein
Widerspruch wirkt, was für mich aber so passend und zutreffend
erscheint: den "guten König", wie es bei unseren französischen
Nachbarn heißt.
Als Bundespräsident haben Sie dieses Amt verändert und durch
dieses Amt verändert. Mehr noch: in Ihren beiden Amtsperioden sind
das Staatsamt und die Person mehr und mehr verschmolzen, am Ende
symbiotisch miteinander verwachsen. So verwundert es auch nicht, dass
Sie den Deutschen auch heute noch gleichsam als Idealtypus des
Staatsoberhauptes gelten.
Von Bundespräsidenten heißt es, dass sie ihre Wirkung vor allem
durch die öffentliche Rede erzielen. Dies ist Ihnen wahrlich perfekt
gelungen, beherrschen Sie doch die Kunst der Rede mit klarer,
analytischer, nachdenklicher Sprache meisterhaft.
Ihr öffentliches Wort besaß Ausstrahlung und Wirkungsmacht, weil
eine Amtsperson nicht bloß Worte der Macht verlas, sondern die
Gedanken mit der Macht des Wortes vorzutragen wusste. Das berühmteste
Beispiel hierfür ist ohne Zweifel Ihre Rede vom 8. Mai 1985 zum 40.
Jahrestag anlässlich der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Eine
Rede, die formal und inhaltlich eine Zäsur markierte, da Sie entgegen
verbreiteten Gefühlen diesen Tag als Befreiung interpretiert haben.
Sie haben es mit dieser international so viel beachteten Rede
vermocht, eine neue historische Identität zu schaffen und eine
kollektive Norm zu setzen. Diese Rede hat das Geschichtsverständnis
und die Erinnerungskultur der Deutschen nachhaltig beeinflusst, sie
in gewisser Weise geöffnet und europäisiert.
Als erster Diener des Staates haben Sie sich nicht bezeichnet und
wohl auch nicht empfunden. Aber sich für die Dinge der Allgemeinheit,
für die res publica, einzusetzen, das ist Ihnen sehr wohl eine
Herzenssache gewesen. Das entspricht Ihrem Selbstverständnis als
überzeugter Demokrat. In den Begriffen von Max Weber haben Sie sich
wohl mit Augenmaß und Leidenschaft für die Sache und für das Ganze
eingesetzt. Und damit jene Haltung vorgelebt, ob als
CDU-Bundestagsabgeordneter, der 1972 den Brandtschen Ostverträgen zu
einer parlamentarischen Mehrheit verhalf, ob als Regierender
Bürgermeister in Berlin oder als Bundespräsident, die für mich am
besten mit "Erst das Land, dann die Partei" umschrieben ist. Weil da
jemand an der Spitze des Staates gestanden hat, der sich nicht als
Vertreter partikularer Interessen verstand, sondern das Wohlergehen
des ganzen Landes im Blick hatte, haben die Menschen Ihnen so viel
Vertrauen entgegengebracht.
Die Menschen in Ost und West fühlten sich gerade in den unruhigen
und bewegten Zeiten des Mauerfalls und der Grenzöffnung durch Sie
angemessen vertreten und unser Land stets würdig repräsentiert.
Ausgestattet mit dem Respekt und dem Vertrauen der Menschen haben
Sie entschlossen mitgeholfen, die Teilung Berlins, Deutschlands und
Europas zu überwinden. Auf das Zusammenwachsen Deutschlands und
Europas hatten Sie schon früher gehofft. Und so überrascht es nicht,
dass Sie sich dieser Aufgabe nach dem Ende Ihrer Amtszeit als
Bundespräsident in verschiedenen ehrenamtlichen Funktionen mit der
für Sie charakteristischen Hingabe und Nachdrücklichkeit widmen.
Nicht zuletzt um die Integration der neuen EU-Mitgliedstaaten haben
Sie sich sehr und mit großem Erfolg bemüht. Dafür möchte ich Ihnen
ganz besonders danken.
In Ihren politischen Funktionen und in ihren vielfältigen
Ehrenämtern haben Sie sich um unser Land verdient gemacht. Sie haben
viel für das demokratische Leben und die politische Kultur bewirkt.
Ich zähle auch weiterhin auf Ihren Rat und Ihr Urteil.
Für die Zukunft wünsche ich Ihnen alles Gute, Tatkraft und
Gesundheit, Glück und persönliches Wohlergehen.
Mit besten Grüßen auch an Ihre Frau
herzlichst Ihr
Gerhard Schröder
Rückfragen richten Sie bitte an:
Der Tagesspiegel, Politik, Telefon 26009 683
ots-Originaltext: Der Tagesspiegel

Rückfragen bitte an:

Der Tagesspiegel
Thomas Wurster
Chef vom Dienst
Telefon: 030-260 09-419
Fax: 030-260 09-622
Email: thomas.wurster@tagesspiegel.de

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