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Börsen-Zeitung: Europa überhebt sich, Kommentar zu den näherrückenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei von Christof Roche

Frankfurt (ots)

Um eines vorwegzuschicken: Es liegt im Interesse
Europas, die Orientierung der Türkei nach Westen und den
Reformprozess im Lande nachhaltig zu unterstützen. Die Türkei ist
seit langem ein verlässlicher Partner der Nato, der gerade unter den
veränderten Sicherheitsbedingungen und im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus eine strategische Bedeutung für Europa
hat. Dennoch droht die Vollmitgliedschaft der Türkei Europa
politisch, wirtschaftlich und finanziell zu überfordern.
Seit Mai steht die Europäische Union vor der Aufgabe, die größte
Erweiterung ihrer Geschichte zu bewältigen. Dies erfordert angesichts
der Heterogenität in Wirtschaft und Gesellschaft der schon heute 25
EU-Mitgliedstaaten bereits eine immense Kraftanstrengung. Eine
Vollmitgliedschaft der Türkei würde diese Perspektive der politischen
Union dagegen schwer belasten. Nach innen, da die wirtschaftlichen
Disparitäten mit der Türkei und die damit verbundenen Zusatzkosten
die Integrationskraft der EU überforderten. Und nach außen, da bei
einem „Ja“ zur Türkei- Vollmitgliedschaft niemand mehr der Ukraine,
Weißrussland, Algerien oder Marokko ein begründetes „Nein“
entgegenhalten könnte. Die Folge: Statt das Einigungswerk Europas
nach vorne zu bringen, riskiert die EU, mit dem türkischen
Vollbeitritt in eine gehobene Freihandelszone abzugleiten.
Dabei hätte Europa mit der alternativen Formel der „privilegierten
Partnerschaft“ ein Instrument, um den Reformprozess Ankaras mit
Aufbau einer Freihandelszone, mehr EU-Geldern und gemeinsamer
Sicherheits- und Verteidigungspolitik zielführend zu begleiten. Aber
die Forderung, wie sie in Deutschland die CDU/CSU-Opposition
vorträgt, den Verhandlungsprozess mit Ankara um die privilegierte
Partnerschaft zu erweitern, verliert sich zunehmend. Zwar steht die
Formulierung des genauen Verhandlungsziels durch den EU-Gipfel noch
aus, der heute und morgen über die Aufnahme der Gespräche mit Ankara
entscheiden wird. Doch das Europaparlament hat bereits die Richtung
gewiesen und sich mit großer Mehrheit für baldige
Beitrittsverhandlungen ausgesprochen.
Regierungschefs wie Tony Blair in London wird dies freuen, denn
sie verfolgen mit der Türkei, anders als in der Öffentlichkeit über
die geostrategische Bedeutung des Landes plakatiert, ohnehin ganz
eigene Ziele. Je mehr Mitgliedstaaten die EU umfasst, und dazu ist
die Türkei der Hebel, desto schwieriger wird die Vertiefung nach
innen. Je weniger politische Union aber, desto mehr Einfluss bleibt
den Nationalstaaten; ein Gedanke, der wohl auch dem deutschen Kanzler
Gerhard Schröder nicht ganz fremd sein dürfte.
ots-Originaltext: Börsen-Zeitung

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