Börsen-Zeitung: Tarifparteien in der Pflicht, Kommentar von Stephan Lorz zu den Tarifforderungen der IG Metall
Frankfurt (ots)
Es gehört zu den Tarifritualen in Deutschland, dass jede Gewerkschaft zu Beginn einer Lohnrunde zunächst eine besonders hohe Forderung erhebt, die bar jeder wirtschaftlichen Vernunft zu sein scheint, um in den Verhandlungen dann aber doch klein beizugeben. So war das zumindest in jüngster Zeit. Die Tarifentwicklung in Deutschland wird deshalb selbst von gewerkschaftskritischen Ökonomen als durchaus moderat bezeichnet. Öffnungsklauseln erlauben einzelnen Unternehmen zudem eine Abweichung vom Tarifgefüge nach unten, sofern der Verlust von Arbeitsplätzen droht. Die große Zahl solcher Sondervereinbarungen zeigt, dass die Tariflandschaft weiter aufgebrochen wurde und die vielkritisierten Flächentarifverträge längst an Bindungswirkung verloren haben. Deutsche Unternehmen konnten auf diese Weise enorm an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, was sich zuletzt auch in den erfreulich hohen Gewinnzuwächsen einiger Unternehmen niedergeschlagen hat.
Nach Jahren der Zurückhaltung will die IG Metall diesmal wieder eine Forderung präsentieren, die zunächst ob ihrer schieren Höhe verschreckt: 4,5 bis 5% mehr Lohn verlangt sie für den Pilotbezirk Baden-Württemberg. Die Arbeitgeber sehen darin schon eine Abkehr vom bisherigen moderaten Kurs. Das aber ist noch gar nicht absehbar. Denn die strukturelle Schwäche der Gewerkschaften hält weiter an: Leichter denn je können Arbeitgeber ins Ausland ausweichen, wenn die steigenden Lohnkosten ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Die Gewerkschafter dürfen daher den Bogen nicht überspannen, zumal eine neue Entlassungswelle auch ihnen selbst schmerzhafte Mitgliederverluste einbringen würde.
In der Debatte wird dabei gern vergessen, dass die Verantwortung für moderate Tarifabschlüsse auch bei den Arbeitgebern liegt. Die zeigen sich in der Öffentlichkeit zwar immer kampfbereit und verweisen auf die bei zu hohen Lohnforderungen drohende Arbeitlosigkeit wenn es aber hart auf hart kommt, geben sie erfahrungsgemäß als Erste nach. Die Erhaltung des Betriebsfriedens ist ihnen dann wichtiger als die Lohnsteigerung, deren Belastung sie durch Arbeitsplatzabbau und Jobverlagerungen ohnehin selber in Grenzen halten und damit sozialisieren können. Etwas mehr Standhaftigkeit in der kommenden Tarifrunde wäre deshalb auch volkswirtschaftlich geboten.
(Börsen-Zeitung, 3.12.2005)
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