Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 29. März 2011 die grün-rote Regierungsbildung in Baden-Württemberg:
Bremen (ots)
Das Koch-Kellner-Problem
von Joerg Helge Wagner
Auf den ersten Blick sieht es ganz so aus, als ob Winried Kretschmann seinen neuen Job in aller Ruhe angehen könnte. Schließlich übernimmt der grüne Überraschungssieger und designierte Ministerpräsident von Baden-Württemberg keinen Sanierungsfall wie seine bedauernswerte Parteifreundin Karoline Linnert 2007 mit dem Bremer Finanzressort: Er hat das wirtschaftliche Herz Deutschlands erobert, ein potentes 11-Millionen-Einwohner-Geberland, getragen vom Steueraufkommen internationaler Konzerne und eines breiten Mittelstands. Mit exzellenten Forschungs- und Bildungseinrichtungen und entsprechenden Ergebnissen in allen Vergleichstests. Mit niedriger Arbeitslosenquote und hoher Lebensqualität. Wir haben zwar gerade erlebt, dass auch eine solche Bilanz keinen Regierungschef vor dem Machtverlust schützt. Doch im Vergleich zum konservativen Noch-Amtsinhaber Stefan Mappus hat der grüne Aspirant Kretschmann einen entscheidenden Vorteil: Er kann zunächst ohne nennenswerte Opposition loslegen. Auch wenn CDU und FDP immer noch knapp die Hälfte der Landtagssitze halten - bevor sie wieder angreifen können, müssen sie sich erst einmal neu formieren. Und das kann dauern, denn die wahrscheinliche Mappus-Nachfolgerin Tanja Gönner muss erhebliche Vorbehalte überwinden. Vielleicht holt sie sich ja bei Parteifreundin Annette Schavan strategischen Rat, was man da alles falsch machen kann. Leichtes Spiel also für den ersten grünen Landesvater? Nicht ganz, denn er führt quasi eine Große Koalition mit neuen Farben, sein vermeintlicher Juniorpartner ist eigentlich der Ko-Pilot. Man könnte auch sagen: Grün-Rot hat ein Koch-Kellner-Problem, weil die Fraktion hinter SPD-Landeschef Nils Schmid nur einen Kopf weniger zählt als Kretschmanns Grüne. Der 37-jährige Finanzjurist wird dem 62-jährigen Ethiklehrer also durchaus auf Augenhöhe begegnen - und da kann das Ende der Gemütlichkeit schnell erreicht sein. Schmid ist nämlich eher ein wirtschaftsnaher Sozialliberaler, der sich ausdrücklich zu Gerhard Schröders Agenda 2010 bekennt. Und zu Stuttgart 21. Im Gegensatz zu Kretschmann will er kein schnelles Ende per Stresstest, sondern eine Bestätigung des Milliardenprojekts per Volksentscheid. Ein hinterhältiges Angebot für die Koalitionsverhandlungen, das die Grünen kaum ablehnen können, bloß weil das "Wutbürgertum" plötzlich wieder viel mehr Angst vor Atommeilern als vor unterirdischen Bahnhöfen hat. Wenn Schmid das Finanzressort erhält und dessen Parteifreund Claus Schmiedel das Wirtschaftsministerium übernimmt, hat Kretschmann schon zwei mächtige Opponenten am Kabinettstisch. Auch in der Energiepolitik lauern Fallstricke, obwohl sich Grüne und Sozialdemokraten beim Atomausstieg einig sind. Doch nun werden sie gewissermaßen auch Mitbesitzer eines der vier deutschen Energieriesen. Die Regierung Mappus hatte - mit klammheimlicher Billigung der Grünen - dafür gesorgt, dass das Land wieder 45 Prozent an der EnBW hält. Die aber produziert fast die Hälfte ihres Stroms in Kernkraftwerken. Da wird man die Gewinne kaum durch überzogene Eile beim Ausstieg schmälern wollen, zumal man sich ausdrücklich den Abbau der Landesschulden in die Programme geschrieben hat. Grün-Rot ist keine Liebesheirat, sondern bislang nur ein Zweckbündnis zur Entmachtung der CDU. Doch wenn es mit dem Ehevertrag nicht klappt, weiß eine regierungswillige SPD: Schwarz-Rot hat im Südwesten schon mehrfach funktioniert. joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
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