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Rheinische Post: Warum Rüttgers provoziert

Düsseldorf (ots)

von Sven Gösmann
Das politische Berlin kennt nur ein Thema: Jürgen Rüttgers und 
seinen Vorstoß für die Mindestrente. Als "unverantwortlicher 
Hütchenspieler" wird Rüttgers geschmäht, von seinen Anhängern dagegen
als sozialpolitisches Gewissen der Union gelobt. Dabei handelt 
Rüttgers nur aus Kalkül heraus - das ist nicht als Vorwurf gemeint. 
Was läuft da? Ein Erklärungsversuch in fünf Thesen:
Erste These: Rüttgers ist es ernst mit der sozialen Gerechtigkeit. 
Wer dem Ministerpräsidenten häufiger zuhört, kennt sein Mantra: 
"Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit sind zwei Seiten 
derselben Medaille." Das hat Rüttgers so oft gesagt, dass es 
inzwischen alle für eine Phrase halten und die Bedeutung dieses 
Satzes für den aus kleinen Verhältnissen stammenden Unions-Mann 
unterschätzen. Das ist ein Fehler. Rüttgers hat immer mit den 
neoliberalen Bewegungen gefremdelt, die zu den zwar vernünftigen, 
aber kaum vermittelbaren wirtschaftspolitischen Beschlüssen des 
Leipziger CDU-Parteitags geführt haben. Er sieht als Basis der CDU 
vor allem jene hart arbeitende Mittelschicht (und die ihr 
entstammenden 21 Millionen Rentner), die Helmut Kohl und Norbert Blüm
zu vielen Wahlsiegen verhalf, weil sie an die Versprechen von der 
Aufstiegsgesellschaft ("Leistung muss sich lohnen") und der sicheren 
Rente glaubte.
Zweite These: Rüttgers denkt pausenlos an seine Wiederwahl 2010. Ihm 
gelang nach 39 Jahren SPD-Herrschaft der Wechsel in NRW, weil er sich
als mitfühlender Konservativer präsentierte. Vor allem in den 
sozialdemokratischen Milieus des Ruhrgebiets kommt er mit einem 
radikalen Wirtschaftskurs nicht weit. So legt Rüttgers seine Politik 
bewusst missverständlich an. Ihr heimlicher Slogan: "Wer 
sozialdemokratische Politik will, muss mich wählen."
Auch persönlich bemüht er sich um das Ruhrgebiet. Er hofiert 
ungeniert dessen wichtigste Entscheider, pumpt Millionen dorthin. Die
SPD hat gegen diese Strategie kein Mittel gefunden. Der Vorhalt von 
SPD-Oppositionsführerin Hannelore Kraft etwa, Rüttgers strahle 
"soziale Kälte" aus, wirkt hilflos. Kraft beruhigt sogar 
verunsicherte CDU-Stammwähler, indem sie ständig erklärt, Rüttgers 
blinke links, biege dann aber rechts ab.
Dritte These: Rüttgers ist nachtragend. Zwar hat sich sein 
Arbeitsverhältnis zur Bundeskanzlerin Angela Merkel normalisiert, man
telefoniert häufiger, zuletzt am Dienstag nach dem Ausbrechen des 
Rentenstreits. Von einem Vertrauensverhältnis kann jedoch keine Rede 
sein. Mit wichtigen Entscheidungen wurde CDU-Vize Rüttgers immer 
wieder erst im Nachhinein konfrontiert. Zudem hält er Merkels 
buddhistische Machterhaltungstaktik des Handelns durch Nichthandeln 
für falsch. Er fürchtet das programmatische Ausbluten der CDU. Die 
Friedhofsruhe nach dem Beinahe-Wahldebakel 2005 ist für ihn ein 
zugleich ermutigendes wie beunruhigendes Zeichen der Merkelschen 
Schwäche.
Vierte These: Rüttgers ist noch ehrgeizig. Die Riege der 
CDU-Ministerpräsidenten ist nicht besonders schmuck: 
Baden-Württembergs Oettinger gilt als bundespolitischer Totalausfall,
der konservative Roland Koch kämpft in Hessen ums politische 
Überleben, die anderen Regierungschefs sind Regionalfürsten. Dazu 
kommt, dass die CSU nicht mehr den traditionellen Widerpart zu Merkel
und der CDU spielt. Dafür ist ihre neue Doppelspitze Huber/Beckstein 
zu schwach.
Einzig der Niedersachse Christian Wulff kämpft mit Rüttgers um die 
Rolle der Nummer zwei hinter Merkel, früher "Reservekanzler" genannt.
Vor 14 Tagen kündigte Wulff seinen Rückzug vom CDU-Landesvorsitz in 
Niedersachsen an, um sich verstärkt um die Bundespolitik kümmern zu 
können. Schon startete Rüttgers seine Sozialoffensive. Das ist kein 
Zufall, sondern eine Kampfansage.
Fünfte These: Rüttgers fühlt sich stark. Seine Umfragewerte sind gut,
das Umfeld des Ministerpräsidenten ist schlagkräftiger geworden. So 
wirkt der jetzige Vorstoß gut vorbereitet  Kritiker wie 
CDU-Generalsekretär Pofalla wurden mit dem Hinweis auf alte 
Parteitagsbeschlüsse zur Mindestrente binnen weniger Stunden 
vorgeführt. Die Attacke wirkt generalstabsmäßig geplant. Kein Wunder:
Der wichtigste Rüttgers-Berater Boris Berger war früher 
Bundeswehroffizier.
Bericht: Wie gerecht ist die Rente?, Titelseite

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