Rheinische Post: Republik aus den Fugen Kommentar Von Sven Gösmann
Düsseldorf (ots)
Koch, Köhler, Kraft. Drei Namen, die die neue Unberechenbarkeit unserer Politik beschreiben. Fast im Zeitraffer gibt es Rücktritte, Kehrtwenden. Das schafft Verunsicherung, kämpft sich das Land doch durch seine schwerste Wirtschaftskrise. Es ist eine unheimliche Krise, denn sie ist nicht überall in der Realität der Menschen angekommen. Die Arbeitslosigkeit sinkt sogar, doch der Krisenbegriff ist Teil der alltäglichen Lebenswahrnehmung. Dazu kommt eine wachsende Irritation, weil unsere Gesellschaft über Jahrzehnte vor allem die positiven Folgen der Globalisierung wahrgenommen hat: etwa steigenden Wohlstand und eine Internationalisierung unseres Lebensstiles. Doch daneben sind die Schattenseiten der Globalisierung getreten. Die erste Zäsur, die Terroranschläge vom 11. September 2001, brachte Ungleichheit und Unberechenbarkeit ins kollektive Bewusstsein. Es folgte der 14. September 2008, die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers als Fanal für die Krise der Finanzmärkte. Das Beben löste die Schockwellen aus, die heute den Euro gefährden. Koch, Köhler, Kraft. Übertreibt, wer diese drei in Zusammenhang mit der Krise bringt? Nein. Denn auch sie sind Auslöser aktuellen Unbehagens. Noch wird die Befürchtung nur gelegentlich geäußert, dass die politische Klasse vor der Komplexität der Probleme ins Bequeme flieht, statt Führung zu übernehmen. Die Fälle liegen unterschiedlich. Koch, der Ministerpräsident, der frustriert mitten in der Legislaturperiode das Private für sich entdeckt. Köhler, der Bundespräsident, der ein Jahr nach seiner Wiederwahl gedemütigt das Amt verlässt. Kraft, die wahrscheinlich nächste NRW-Ministerpräsidentin, die der Unübersichtlichkeit des neuen Fünf-Parteien-Systems mit der Scheinlösung Minderheitsregierung zu entgehen sucht. Dazu kommt in Berlin eine nicht einmal ein Jahr im Amt befindliche Bundesregierung, die ohne Kompass vor sich hin streitet. Die Republik wirkt aus den Fugen. Doch nichts ist verloren. Die Stabilität des Systems fußt nicht nur auf den Vorleuten. Die Verwaltung arbeitet, die Wirtschaft ebenso. Die Wahrnehmung mangelnder Führung kann behoben werden. Die Wahl des Bundespräsidenten am 30. Juni ist so eine Chance, Politik neu zu definieren. Beide Kandidaten haben das Zeug dazu. Die Kanzlerin, eine andere Instanz, muss ebenfalls ihre Sprachlosigkeit überwinden. Bisher hat sie es nur bei einer Rede geschafft, ihrem persönlich gefärbten Plädoyer für die Freiheit vor dem US-Kongress, sich und damit die Leitlinien deutscher Politik zu erklären. Sie vermag es also. Die durchaus konstruktive Opposition aus SPD und Grünen könnte dieser Wende zusätzlichen Schub verleihen. Eine Rückkehr zur Vernunft aller Akteure in NRW wäre ebenfalls wichtig. Kraft wie Rüttgers könnten durch persönliches Handeln Zeichen setzen. Dann wären Koch, Köhler, Kraft in der Rückschau zwar nicht der Anfang vom Ende der Krise, aber doch Anfang vom Ende der Krise der Politik.
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