Rheinische Post: Der verschwundene Bundespräsident
Düsseldorf (ots)
Ein Kommentar von Sven Gösmann:
Vor knapp einem Jahr, am 30. Juni 2010, wurde Christian Wulff als Nachfolger des zurückgetretenen Horst Köhler zum Bundespräsidenten gewählt. Der niedersächsische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Vorsitzende benötigte drei Wahlgänge in der Bundesversammlung, um seinen Mitbewerber Joachim Gauck zu schlagen. Es war ein schwieriger Start für den morgen 52 Jahre alt werdenden, jungenhaft wirkenden Präsidenten. Anfangs machten vor allem seine Lebensumstände Schlagzeilen: in zweiter Ehe mit einer Protestantin verheirateter Katholik, ein gemeinsames Kind, je eines brachten beide Partner aus früheren Verbindungen mit; die Patchwork-Familie in Bellevue wurde als zeitgemäßer Lebensentwurf gedeutet. Nur drei Momente blieben im ersten Jahr in Erinnerung: Als Christian Wulff in bis dahin beispielloser Auslegung präsidialer Kompetenzen der Bundesbank zur Entlassung des wegen rechtspopulistischer Äußerungen in Trouble geratenen Vorstands Sarrazin riet. Oder als er nach der Loveparade-Katastrophe den versteinerten Duisburger Oberbürgermeister Sauerland buchstäblich im Regen stehenließ. Und als er den interpretationsbedürftigen Satz sprach, inzwischen gehöre auch der Islam zu Deutschland. Dreimal geriet Wulff durch seine ungeschickten Formulierungen in Tumult. Seitdem ist er stumm. Zu Fukushima und Energiewende, Euro-Krise und Griechenland-Eskalation - von ihm verlautet dazu Belangloses bis nichts. Die Waffe des Bundespräsidenten jedoch ist das Wort. Diese Binsenweisheit ist im Grundgesetz festgeschrieben von einem Volk, das aus historischem Schaden klug wurde. Warum aber nutzt Christian Wulff nicht seine einzige Waffe? Zu seinen Gunsten nehme man an, dass er gerade Luft holt, um diese dann wortgewaltig abzulassen. Zu seinen Ungunsten ist zu befürchten, dass er mit seiner Rolle hadert. Beeindruckt vom Ballyhoo nach seinen ersten Äußerungen, über Gebühr gewarnt von Horst Köhlers jüngsten Bemerkungen über die Gründe seines Rücktritts, will Wulff durch Nichthandeln handeln. Jeden Eindruck, er sei noch Mitglied der Bescheidwisser-Kaste der Berufspolitiker, möchte er vermeiden. So aber vergeht Zeit, verpufft die Hoffnung, dass der Berufspolitiker Wulff den Kardinalfehler seines Vorgängers Köhler vermeidet, sich als Antipolitiker zu inszenieren, aber gleichzeitig seine Erfahrung aus der Berufspolitik für richtungweisende Gesten und Reden zu nutzen. Genau dies ist die Lücke in der aktuellen politischen Landschaft. Die Bundesregierung agiert tagespolitisch, die Opposition kopflos oder wie die Grünen nach dem Erreichen ihres Kernziels Atomausstieg ratlos. Die Politik ist massiv unterphilosophiert. Frei nach Helmut Schmidt sind Visionen daher kein Fall für den Arzt, sondern für den Präsidenten. Der schweigt, wird konturenlos und verschwindet im Dunst der Berliner Käseglocke.
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