Forscher fordern Konsequenzen aus Pestizidskandal
Berlin (ots)
Schwedische WissenschaftlerInnen erheben schwere Vorwürfe gegen den Chemiekonzern Dow Chemical/Corteva und Pestizid-Zulassungsbehörden. "Der Hersteller des Insektizids Chlorpyrifos hat die Ergebnisse eines Tierversuchs 1998 irreführend dargestellt, und die Behörden korrigierten das erst 2019", sagte Chemiker Axel Mie von der schwedischen Medizinuniversität Karolinska-Institut der Tageszeitung "taz" (Dienstagausgabe). "Die Ergebniszusammenfassung verschwieg, dass die Kleinhirne von Jungratten kleiner waren, selbst wenn ihre Mütter während der Trächtigkeit nur sehr geringen Chlorpyrifos-Mengen ausgesetzt waren", ergänzte Christina Rudén, Ökotoxikologie-Professorin an der Universität Stockholm.
Deshalb ließ die Europäische Union das seit Jahrzehnten erlaubte Mittel 2005 erneut zu, obwohl die Daten auf mögliche Schäden an den Gehirnen menschlicher Embryos hindeuteten. Die Forscher fordern nun von der EU, Hinweisen auf mögliche Manipulationen nachzugehen.
Zwar hat die EU den Stoff Anfang 2020 verboten. Denn Forscher um Mie hatten die Rohdaten des Rattenversuchs ausgewertet und 2018 in einem Fachartikel auf die fehlerhafte Auswertung hinwiesen. Doch das EU-weite Verbot kam erst 22 Jahre nachdem die Rattenstudie Hinweise auf die Gefahr geliefert hatte. In Deutschland durfte Chlorpyrifos schon seit 2015 nicht mehr gespritzt werden - anders als etwa in Spanien und Polen. Aber laut Bundesamt für Verbraucherschutz wurde das Pestizid beispielsweise 2018 in 23 Prozent der untersuchten Grapefruits, 21 Prozent der analysierten Bananen und 20 Prozent der Orangenproben gefunden. Der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit zufolge war Chlorpyrifos eines der 2018 am häufigsten gefundenen Pestizide in Nahrungsmitteln.
"Studien deuten auf einen niedrigeren Intelligenzquotienten bei Kindern infolge von Chlorpyrifosexposition hin", schreiben Mie und Rudén. "In Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, müsste die EU-Kommission schon der Frage nachgehen, wie es zu der offensichtlich fehlerhaften Analyse durch das Unternehmen kommen konnte." Untersucht werden muss den Wissenschaftlern zufolge auch, warum die Ämter die Fehler nicht behoben.
Spanien prüfte Chlorpyrifos ab 1999 im Auftrag der EU. Wie immer bei solchen Verfahren in Europa, den USA oder Kanada stützten sich die spanischen Regierungsexperten vor allem auf Studien, die Hersteller des Pestizids in Auftrag gegeben und für die Behörden zusammengefasst hatten. Doch die Experten wiesen im amtlichen Bericht über die Risiken des Pestizids nicht auf die Gefahren für Embryos hin. Offenbar verließen sich die Behörden bei der Studie mit den Ratten nur auf die Zusammenfassung von Dow Chemical. Die erwähnte mit keinem Wort, dass die Kleinhirne der Jungen von Ratten flacher waren, auch wenn deren Müttern während der Trächtigkeit Chlorpyrifos nur in geringen Dosen eingeflößt wurde.
Wissenschaftler von Dow verteidigten die Studie 2019 mit dem Argument, dass die Kleinhirne von bestimmten Rattenjungen kleiner gewesen seien, weil die Hirne bei der Lagerung vor der Untersuchung in einer Fixierlösung geschrumpft seien. Allerdings stand in der Studie laut Mie eindeutig, dass alle Hirne der fraglichen Altersgruppe gleichzeitig untersucht worden seien.
Selbst auf mehrmalige Nachfrage der taz, ob die Behörden dem Verdacht der Manipulation nachgehen, antwortete die EU-Kommission nur ausweichend. Das zuständige spanische Gesundheitsministerium schrieb der taz, das bei der Ausarbeitung der Analyse von Chlorpyrifos "zu keinem Zeitpunkt" die Daten der Studie manipuliert worden seien. "Die Ergebnisse der Studien wurden auf Grundlage des damaligen Forschungsstandes ausgewertet."
Österreichs Gesundheitsminister Rudolf Anschober ließ mitteilen, dass er sich "selbstverständlich für eine Aufklärung des Vorwurfes der Manipulation im Rahmen der Zulassung von Chlorpyrifos ausspricht". Deutschlands Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) dagegen verwies nur auf die EU-Kommission.
Mie und Rudén schlagen vor, dass nicht mehr die Industrie die Studien für die Zulassung finanziert. Stattdessen müssten die Unternehmen eine Behörde bezahlen, damit sie die Studien in Auftrag gibt. "Dadurch lässt sich einem Interessenkonflikt im Testlabor vorbeugen - der Auftraggeber hätte dann kein wirtschaftliches Interesse an einem bestimmten Resultat", erklärte Rudén.
Das sieht auch der in Spanien zuständige Gesundheitsminister Salvador Illa von der sozialistischen Partei PSOE so: "Unserer Meinung nach wäre es ideal, wenn die Europäische Union die Studien für die Zulassung von Wirkstoffen durchführen könnte und die Antragsteller die Kosten dieser Studien einer europäischen Behörde zahlen würden", teilte das Ministerium der taz mit.
jma/mkr
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