Ethikrat: Stärkung von Suizidprävention und Selbstbestimmung
Berlin (ots)
Am 22. September 2022 stellt der Deutsche Ethikrat in der Bundespressekonferenz in Berlin seine Stellungnahme "Suizid - Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit" vor. Damit verfolgt der Rat drei zentrale Anliegen: ein angemessenes Bewusstsein für die Vielschichtigkeit von Suizidalität schaffen, die Voraussetzungen freiverantwortlicher Suizidentscheidungen präzisieren und die unterschiedlich gelagerten Verantwortungen verschiedener Akteurinnen und Akteure im Kontext von Suizidentscheidungen und -prävention aufzeigen.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 den Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte, brandeten die schon lange bestehenden Debatten zum angemessenen Umgang mit suizidalen Krisen und dem umstrittenen Thema der Suizidassistenz und seiner Regulierung erneut auf.
Der Deutsche Ethikrat hat sich in der Vergangenheit bereits in zwei Ad-hoc-Empfehlungen mit Fragen der Suizidassistenz beschäftigt. Mit dieser Stellungnahme nimmt er die Thematik erneut auf und betont dabei vor allem die Bedeutung der Suizidprävention. Denn "wer sich damit beschäftigt, ob und gegebenenfalls wie die Beihilfe zum Suizid in Deutschland reguliert werden soll", so die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Alena Buyx, "der muss gleichzeitig die Bedingungen und Verantwortlichkeiten einer echten und umfassenden Suizidprävention in den Blick nehmen."
Der Deutsche Ethikrat veranschaulicht anhand ausgewählter Fallvignetten die personalen, sozialen und gesellschaftlichen Seiten von Suizidalität, um die Möglichkeiten und Grenzen des Einflusses auf freiverantwortliche Suizidentscheidungen sowie mögliche Interventionsformen auszuloten. Dabei wird deutlich, dass in aller Regel ein längerer Prozess innerer und äußerer Einengungen und Belastungen den Suizidgedanken vorausgeht. Dieser Prozess muss keineswegs notwendig und unmittelbar zur Suizidhandlung führen. Die Motive reichen dabei von psychischen und insbesondere depressiven Störungen sowie körperlichen Leiden über Isolation und Einsamkeit bis hin zur Lebenssattheit. Neben individuellen Faktoren nehmen auch die soziale und die gesellschaftliche Umwelt Einfluss auf Suizidgedanken und deren Entwicklung. Die Dynamik von Suizidgedanken und suizidalen Handlungen unterstreicht die Bedeutung einer Suizidprävention, die mögliche Risikofaktoren angemessen in den Blick nimmt.
Dennoch weist der Ethikrat darauf hin, dass eine freiverantwortliche Entscheidung rechtlich und ethisch auch dann als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu respektieren ist, wenn es um die Beendigung des eigenen Lebens geht. Aufgrund ihrer Irreversibilität müssen freiverantwortliche Suizidentscheidungen jedoch einem besonders hohen Maß an Selbstbestimmung genügen. Das setzt eine hinreichende Kenntnis der entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und die Fähigkeit voraus, diese Punkte ausreichend und realitätsbezogen zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ebenso braucht es eine hinreichende Überlegtheit, Festigkeit und Eigenständigkeit der Entscheidung. Im Ethikrat werden verschiedene Auffassungen dazu vertreten, wann genau ein hinreichendes Maß an Selbstbestimmung erreicht ist und wie dies gegebenenfalls sichergestellt werden kann. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit der betroffenen Person nicht den Verfügungsspielraum über ihr Leben nehmen dürfen. Auch freiverantwortliche Suizidentscheidungen resultieren jedoch überwiegend aus Lebenslagen, in denen die Verwirklichung von Grundbedürfnissen massiv erschwert ist. "Das auch in solchen Fällen zu respektierende Selbstbestimmungsrecht", so erklärt der Sprecher der ratsinternen Arbeitsgruppe Helmut Frister, "entlastet Staat und Gesellschaft in keiner Weise von der Verantwortung, so weit wie möglich dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nicht in Situationen geraten und verbleiben, in denen sie sich genötigt sehen, den Tod als vermeintlich kleineres Übel dem Leben vorzuziehen."
"Will man betroffenen Menschen inmitten einer psychosozial verdichteten suizidalen Lebenssituation wirklich eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen - und das muss der Anspruch sein -, dann stehen auf verschiedenen Ebenen viele Akteurinnen und Akteure in großer Verantwortung", betont der stellvertretende Sprecher der Arbeitsgruppe Andreas Lob-Hüdepohl. Auf der Ebene professioneller und alltagsweltlicher Einzelpersonen liegt die Letztverantwortung bei der suizidalen Person. Allerdings tragen auch An- und Zugehörige sowie Fachkräfte Verantwortung dafür, Perspektiven auf alternative Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu eröffnen und somit freiverantwortliche Entscheidungen zu ermöglichen. Die Verantwortung von Einrichtungen sieht der Ethikrat vor allem darin, ihre Angebote konsequent an den Zielen der Suizidprävention zu orientieren und Lebensbindungen zu stärken. Sollte sich allerdings der Suizidwunsch einer Person zu einem festen, freiverantwortlichen Willen verdichten, kann Suizidassistenz angeboten werden. Einrichtungen sollten ihr Leitbild um Überlegungen zur Sterbekultur weiterentwickeln. So machen sie transparent, ob und gegebenenfalls wie in ihrem Haus mit Suizidassistenz umgegangen wird. Gesamtgesellschaftliche und staatliche Institutionen stehen demgegenüber vor allem in der Verantwortung, eine umfassende Suizidprävention zu ermöglichen - über die gesamte Lebensspanne, in allen relevanten Lebensbereichen, zeitnah und flächendeckend. Nur wenn alle beteiligten Akteurinnen und Akteure sich vernetzen, kann es gelingen, Personen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen und den anspruchsvollen Anforderungen an freiverantwortliche Entscheidungen Rechnung zu tragen.
Der vollständige Wortlaut der Stellungnahme "Suizid - Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit" ist abrufbar unter: https://ots.de/fmfw9v.
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