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Platzeck: Wir haben die Erotik der Demokratie verloren
Potsdam (ots)
Brandenburgs früherer Ministerpräsident Matthias Platzeck warnt vor einer weiteren Entfremdung zwischen Politik und Bürgern.
Im Interview mit rbb|24 sagte Platzeck, Politik müsse direkter werden. Viele Menschen, die sich in Gemeindevertretungen ehrenamtlich engagieren, erlebten die Umsetzung ihrer Entscheidungen nicht, weil beispielsweise Gerichtsprozesse Verfahren verzögerten. "Wir haben die Erotik der Demokratie verloren", stellte der SPD-Politiker fest.
Platzeck kritisierte, dass sich die Politik und ihre Sprache über lange Zeit an städtische Wählerschichten angepasst habe. Die Hälfte der Menschen lebe aber in Kleinstädten und Dörfern. "Sprache spielt dort eine große Rolle", sagte Platzeck, der am Freitag seinen 70. Geburtstag feierte. Für diese Entwicklung trage auch er als ehemaliger Ministerpräsident Verantwortung: "Dass sich unsere Sprache verändert hat, dass die Demokratie nicht mehr direkt erlebbar ist, das sind Prozesse, die laufen über Jahrzehnte und die haben wir zugelassen".
Die Entfremdung von der Demokratie sei aber nicht allein ein Brandenburger Phänomen, sondern eine Entwicklung in der gesamten westlichen Welt. Zur Wahrheit gehöre auch, dass der Westen "einen Tick zu überheblich" geworden sei, so Platzeck. Nach 1990 sei die herrschende Meinung gewesen, der Westen sei so gut, dass ihm in Kürze die ganze Welt ähneln werde. 30 Jahre später habe sich die "große, schöne Hoffnung" nicht erfüllt.
Mit Blick auf Umfrage- und Wahlerfolge der AfD rief er die Vertreter der anderen Parteien dazu auf, Fehler auch bei sich zu suchen. Sie müssten sich fragen, welche Themen und Probleme sie übersehen hätten: "Nur da, wo eine Marktlücke entsteht, kann sich eine neue politische Kraft entfalten."
Platzeck, der vor zehn Jahren aus gesundheitlichen Gründen als Ministerpräsident zurückgetreten war und sich aus den vorderen Reihen der Politik zurückgezogen hatte, riet dazu, sich auf Kernprobleme zu konzentrieren. Er beobachte eine Neigung dazu, abzuschweifen zu Themen, die nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen relevant seien. Politik müsse aber Probleme lösen, die Menschen in ihrem alltäglichen Leben wirklich bewegten. In Brandenburg seien das zum Beispiel Gesundheit, Pflege und Mobilität. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hadere er "permanent" mit seiner Fehleinschätzung, dass Russland ein verlässlicher Nachbar nah an Europa gewesen sei, gestand Platzeck ein: "Da gab es auch eine Krise, in der ich mich eine Weile befunden habe." Die Vorgeschichte des Krieges bestünde jedoch nicht nur daraus, dass ein "kriegslüsterner Präsident" am Werk sei. Nach 1990 sei es versäumt worden, eine Sicherheitsarchitektur zu finden, in die sich auch die Russische Föderation einbezogen gefühlt habe. Bereits heute müsse an den Tag nach dem Krieg gedacht werden. Platzeck forderte stärkere diplomatische Bemühungen des Westens. Auch wenn Russland dafür nicht offen sei, habe die Diplomatie die Pflicht, an 100 Türklinken zu fassen. "Und wenn das sinnlos war, an die 101.", so Platzeck.
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