Berliner Morgenpost: Obama kann noch der große Erneuerer werden (Kommentar)
Berlin (ots)
Am 20. Januar 2009 rief Barack Obama seinen Landsleuten zu, sie sollten "aufstehen, den Staub abklopfen und mit der Arbeit beginnen, Amerika zu erneuern". Die Nation reagierte mit Enthusiasmus, und die Welt schien zu lächeln. In den USA gab es für einen historischen Moment keine Parteien mehr, sondern nur noch Amerikaner, und Europa wollte an den Götterfunken glauben, der nach Terror und Krieg aus allen Menschen Brüder und Schwestern macht. Ein Jahr ist seit der Antrittsrede des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten vergangen, und Amerika hat sich anders verändert, als es der Augenblick zu versprechen schien. Die Weltwirtschaftskrise, ein Erbe aus der Zeit des Vorgängers, hält das Land gefangen und hat die Arbeitslosenquote von 7,7 auf zehn Prozent steigen lassen. In Afghanistan werden im Laufe dieses Jahres dreimal so viele US-Soldaten wie bei Obamas Amtsantritt kämpfen. Muslimische Extremisten haben die ausgestreckte Hand des Präsidenten zurückgewiesen, wie ein versuchter Terrorschlag zu Weihnachten demonstrierte. Die Gesundheitsreform, das große innenpolitische Projekt, ist noch immer nicht realisiert, und eine Wahlniederlage der Demokraten, die gestern in Massachusetts drohte, würde weitere Fortschritte zusätzlich erschweren. Mit der Arbeit Obamas sind nur noch 46 Prozent seiner Landsleute einverstanden. So schlecht stand zum Auftakt des zweiten Amtsjahres noch kein Präsident da. Doch an den ersten zwölf Monaten darf man Präsidenten nicht messen. John F. Kennedy etwa hatte 1960 ein miserables Auftaktjahr mit Schweinebucht-Desaster und enttäuschten Erwartungen bei der Aussöhnung von Schwarzen und Weißen. Franklin D. Roosevelt ging 1933 die Weltwirtschaftskrise zunächst mit untauglichen und später für verfassungswidrig erklärten Methoden an. Abraham Lincoln, als Sklavenbefreier Obamas Leitstern, versprach bei seiner Inauguration den Plantagenbesitzern im Süden, die Sklaverei in ihren Staaten aufrechtzuerhalten. Auch Obama kann weiterhin einer der großen Erneuerer in der Geschichte der USA werden. Die Rezession ist vorüber, und zieht bald auch der Arbeitsmarkt wieder an, ist eine Abstrafung der Demokraten bei den Zwischenwahlen im Herbst keineswegs sicher. Denn persönlich genießt der erste schwarze Präsident im Weißen Haus weiterhin viele Sympathien. Obama hat ein beispielloses Selbstbewusstsein, das ihn dagegen feit, Politik wegen schlechter Umfragen zu ändern. Er ist aber auch mit einem Pragmatismus gesegnet, der ihn nicht in ideologische Sackgassen lockt. Zudem hat ihn die Kungelgesellschaft Chicagos mit jenen Ellenbogen ausgestattet, ohne die herausragende Politiker weder an die Macht kommen noch sich dort halten können. Vor einem Jahr hätten Beobachter vorsichtiger sein müssen mit allzu übersteigerten Erwartungen. Heute seien sie vor der ebenso voreiligen These gewarnt, dass Barack Obama gescheitert sei.
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