Berliner Morgenpost: Merkel haut auf den europäischen Tisch
Berlin (ots)
Es ist wie verhext: Nicht Griechenland und die Misere, die es der EU bereitet, stehen im Feuer der Kritik, sondern die deutsche Kanzlerin wird angegriffen. Man muss sie verteidigen gegen diese anbrausende Flut von Feindseligkeit. Man kennt den Mechanismus: Immer, wenn es ans Eingemachte geht, wird nicht die bittere Wahrheit selbst, sondern der Stil, in dem sie vorgetragen wird, zum Thema. Nein, Angela Merkel ist keine "Mrs. No", nur weil sie den vor einem Staatsbankrott stehenden Griechen nicht gleich die Milliarden - deutsche Steuergelder! - in den Rachen werfen wollte. Und die deutsche Regierung ist auch nicht, nur weil sie endlich einmal "basta!" sagt, antieuropäisch oder gar nationalistisch gesinnt, sondern proeuropäisch wie immer schon. Die Menschen in Deutschland spüren, dass es nicht nur um wahltaktische Manöver geht: Ganz im Gegenteil ist dieses Verhalten endlich richtig europäisch, weil realistisch. Jahrzehntelang hat Deutschland um des europäischen Friedens willen eine sehr zurückgenommene Politik in Europa gefahren. Wir machten uns kleiner und waren zahlungswillig. Natürlich hat Deutschland davon profitiert. Doch es war immer auch ein Hauch Verkrampftheit dabei: Man wollte der beste Europäer sein. Deutsch sein wollte man nicht. Doch die Krise, deren Anfang wir gerade erleben und deren Ausgang ungewiss ist, hat ein neues deutsches Selbstbewusstsein und ein neues Verantwortungsgefühl - ein nationales wie ein europäisches - zutage gefördert. Das ist das Gegenteil von Großmannsucht oder Nationalismus. Denn was Griechenland und auch andere Länder wie Portugal, Irland und Spanien mit aller Wucht erleben, lauert auch in den kerneuropäischen Ländern: Überschuldung, zu hohe Staatskosten, zu wenig Innovation. Die Wahrheit musste endlich einmal auf den Tisch: Alle Länder müssen sparen, sparen, sparen. Das tut weh und ist unpopulär, also hat man die Reformen überall in Europa verschleppt. Griechenland hält den Europäern, wenn auch verzerrt, einen Spiegel vor. Und was sehen wir da? Ein bisschen griechisch sind wir alle - und das ist nicht mehr gut so. Und was sehen wir noch? Die EU ist eben kein paradiesischer Verein, in dem die Transfers nur so sprudeln und die Solidarität auf immer und ewig blüht. Turbo-Modernisierung und Gleichmacherei sind an die Wand gefahren. Länder wurden um des politischen Friedens willen aufgenommen, die anderen Kriterien nicht genügen. Kontrollmechanismen wie der Stabilitätspakt waren zu lax. So wird die Causa Griechenland der Auftakt zu einer intensiven Debatte nicht nur über die Kontrolle der EU-Haushalte. Sie könnte zu einer neuen Selbstvergewisserung über Stärken und Schwächen, aber auch über Anfang und Ende einer überfrachteten Idee führen. Die Jasager jedenfalls haben ausgedient. Wenn das Bild von der europäischen Familie greift, dann hat Deutschland (warum eigentlich nur Deutschland?) das getan, was in jeder Familie vorkommt, wenn es reicht: Es hat - einmal wenigstens - auf den Tisch gehauen.
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