BERLINER MORGENPOST: Ein ungeheurer Verdacht
Leitartikel von Miguel Sanches zum Mordfall Lübcke
Berlin (ots)
Kurzform: Die Unschuldsvermutung gilt auch für den Verdächtigen im Fall Lübcke. Es kann sich herausstellen, dass der 45-Jährige unschuldig ist; oder, dass der Mann zwar zweifelsfrei als Täter überführt wird und Kontakte zu Neonazis hat, der Mord gleichwohl aus anderen Motiven verübt worden ist. Vieles erscheint rätselhaft und bedarf der Aufklärung, im Schuldfall zum Beispiel schon noch die Frage, ob der Verdächtige allein gehandelt hat oder als Teil eines Netzwerks. Hatte er Komplizen? Im Hinterkopf hat man da unweigerlich den NSU-Terror. Sollte sich zweifelsfrei herausstellen, dass Lübcke Opfer eines politischen Mordes war, nimmt sein Fall eine neue Dimension an - aber erst dann, nur dann.
Der vollständige Leitartikel: Unter den unsäglich vielen Verschwörungstheorien wurde gleich nach dem Mord an Walter Lübcke der Verdacht geäußert, dass er Opfer eines ideologischen Hass-Mörders gewesen sein könnte. Ein ungeheurer Verdacht, der sich erhärtet hat. Der Generalbundesanwalt hätte die Aufklärung andernfalls bei den hessischen Behörden belassen. Wenn er Ermittlungen an sich zieht, hat es Signalcharakter: In Karlsruhe geht man von einer politischen Gewalttat aus, von einem Einzeltäter mit rechtsextremistischem Hintergrund. Halten wir zunächst die Fakten fest: Wie so viele Menschen, die Flüchtlingen geholfen und Angela Merkels "Wir schaffen das" beherzigt haben, wurde der Regierungspräsident in Kassel häufig und heftigst angefeindet, bis hin zu Morddrohungen. Seine Würde wurde sogar über den Tod hinaus verletzt, nachdem viele User im Internet ihre Freude darüber geäußert hatten. Gegen den Mann, der jetzt verhaftet wurde, spricht eine DNA-Spur. Zum Bild passt, dass er polizeibekannt, gewalttätig war und Kontakte zum rechten Milieu hatte. Das gibt dem Fall Lübcke vollends eine sehr politische und zugleich sehr unheilvolle Wendung. Seit den Verbrechen der NSU-Terrorbande kann sich keine Sicherheitsbehörde leisten, das kriminelle (Gewalt-)Potenzial der Szene zu unterschätzen. Schon die relativ hohe Zahl von "offenen", also bislang nicht vollstreckten Haftbefehlen, ruft ein Unbehagen hervor. Ein Polizeiversagen darf sich nicht wiederholen. Gerade der Generalbundesanwalt hat in den vergangenen Jahren keinen Zweifel aufkommen lassen, dass er sensibilisiert ist. Das hat er mehrfach bewiesen. Das belegt zum einen der Fall des Bundeswehroffiziers Franco A., wo die Beweislage freilich dünn ist; es gibt eher Indizien als handfeste Beweise. Zum anderen sind da die Ermittlungen gegen die mutmaßliche Terrorgruppe "Revolution Chemnitz", einem Führungskader rechter Hooligans, Skinheads, Neonazis und Angehörigen der Rechtsrock-Szene. Hier dürfte eine Anklage nur eine Frage der Zeit sein. Dass die Szene nicht nur verbalradikal ist, zeigten in der jüngsten Vergangenheit bereits die Messerattacken auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und auf ihren Kollegen aus dem sauerländischen Altena. Es gibt durchaus ein Muster, das zum Fall Lübcke passt. Indes, ein Muster, ein Verdacht, eine Verhaftung, eine Spur, ja, die beste, differenzierteste Anklage ist kein Schuldspruch. Die Beweiswürdigung obliegt dem Gericht. Ein gewissenhafter Richter muss jeden Stein umdrehen. Im Rechtsstaat muss jeder so lange als unschuldig angesehen werden, bis er von einem Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist. Die Unschuldsvermutung gilt auch für den Verdächtigen im Fall Lübcke. Es kann sich herausstellen, dass der 45-Jährige unschuldig ist; oder, dass der Mann zwar zweifelsfrei als Täter überführt wird und Kontakte zu Neonazis hat, der Mord gleichwohl aus anderen Motiven verübt worden ist. Vieles erscheint rätselhaft und bedarf der Aufklärung, im Schuldfall zum Beispiel schon noch die Frage, ob der Verdächtige allein gehandelt hat oder als Teil eines Netzwerks. Hatte er Komplizen? Im Hinterkopf hat man da unweigerlich den NSU-Terror. Dass Grüne, FDP und Linke umgehend eine Sondersitzung des Innenausschusses im Bundestag gefordert haben, ist ein Reflex, den sie besser unterdrückt hätten. Zu diesem frühen Stadium können die Ermittler nicht viel sagen. Man muss den Fall nicht extra politisieren. Sollte sich zweifelsfrei herausstellen, dass Lübcke Opfer eines politischen Mordes war, nimmt sein Fall eine neue Dimension an - aber erst dann, nur dann.
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