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Lindners Verzwergung
Leitartikel von Miguel Sanches

Berlin (ots)

Es gibt Politiker, die in Krisen über sich hinauswachsen. Und es gibt welche, die verzwergen. So erging es jetzt FDP-Chef Christian Lindner. Wie konnte das passieren? Hat er die Regierungskrise in Thüringen unterschätzt oder sich, seinen Einfluss, Integrationskraft, Autorität überschätzt oder gar alles zusammen?

Dass es besser sei, "nicht zu regieren, als falsch zu regieren", war im Herbst 2017 eine eingängige Begründung gegen die Jamaika-Koalition. Dieser Satz kehrt wie ein Bumerang zu Lindner zurück. Nie war der Satz so wahr und richtiger als jetzt, als sich Thomas Kemmerich in Erfurt mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Lindner, die Nummer eins der Liberalen, hat rumgeeiert, als eine klare Ansage gefragt war. Er hat gezögert, taktiert und falsche Rücksichtnahme geübt, als Führung und Orientierung angesagt waren. Lindner, auch nur ein Scheinriese.

Es ist wahr. Lindner hat nur 24 Stunden lang gewackelt, 24 Stunden, in denen ihn sein Instinkt verlassen hat. Am Donnerstag fuhr er nach Erfurt und brachte Kemmerich zur Räson. Das war nur noch Schadensbegrenzung. Und weil Lindner weiß, welche jämmerliche Figur er abgegeben hat, stellt er die Vertrauensfrage. Die Kurzresidenz Kemmerichs wird bald in Vergessenheit geraten. In Erinnerung bleibt hingegen, wie leicht verführbar die FDP ist, verführbar von der Macht. Das gilt auch für Wolfgang Kubicki, der den "großartigen Erfolg" Kemmerichs gefeiert hatte, den vermeintlichen "Kandidaten der demokratischen Mitte". Es war genau anders herum, keine reife Leistung, sondern ein "Hauch von Weimar" (Gerhart Baum). Es gab Freie Demokraten, bei denen die Reflexe stimmten, aber die Lindners und Kubickis gaben vor allem Anlass zum Fremdschämen. Thüringen, so viel ist klar, wird die Freien Demokraten Glaubwürdigkeit kosten.

Wenn man Lindner und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer vergleicht, wird ein Unterschied deutlich. Sie hat einen wertegebundenen Kompass und sich danach gerichtet. Auch ihre Autorität hat gelitten, weil auch ihre Parteifreunde in Erfurt Spielchen gespielt haben. Aber sie hat wenigstens eine Reaktion gezeigt. Christian Lindner wird am Freitag das Vertrauen des FDP-Vorstands bekommen. Er hat seine Verdienste, ist trotz allem ein Hoffnungsträger, modern, telegen. Der Rest ist Schweigen.

Die "Strohmann-Affäre" ist nicht zu Ende. Kemmerich ist nicht zurückgetreten. Er will mit der FDP-Fraktion die Auflösung des Landtages beantragen, im Zweifel die Vertrauensfrage stellen. Aber auch das ist eine Rechnung, bei der offen ist, ob sie aufgeht. Man kann emotional nachvollziehen, dass SPD-Chef Walter-Borjans ihn nicht mal für eine Übergangszeit bis zu einer Neuwahl ertragen will. Aber Kemmerich bleibt laut Verfassung im Amt, bis ein Nachfolger gefunden ist. Alles andere ist Wunschdenken.

Die Linke hat einen Schock und ihr bisheriger Ministerpräsident Bodo Ramelow eine Demütigung erlebt. Aber für sie kann sich das Blatt wenden. Riskanter wäre eine Neuwahl für die Grünen, die schon bei der letzten Wahl nur mit Ach und Krach in den Landtag gekommen sind. Das gilt erst recht für die FDP. Es ist nicht sicher, dass sich nach einer Neuwahl eindeutigere Mehrheitsverhältnisse ergeben werden. Gut möglich auch, dass die AfD noch dazugewinnen wird.

Die Thüringer Krise ist ansteckend. Die Bundes-SPD hatte schon lange keinen so guten Anlass, zu ihrem Koalitionspartner, der Union, eine Grenze zu ziehen: bis hierhin und nicht weiter. Kramp-Karrenbauer ist gefordert, ihre Parteifreunde in Thüringen zur Räson zu bringen, weil sie andernfalls auch in Berlin leicht die Kontrolle verlieren könnte

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