Berlin trauert - Leitartikel von Christine Richter
Berlin (ots)
Es ist einer dieser schrecklichen Tage: Am Mittwochvormittag um 10.26 Uhr hat ein Mann mit seinem Auto eine Todesfahrt in der City West, am Kurfürstendamm und Tauentzien begangen, fuhr erst auf den Bürgersteig und raste dann in ein Douglas-Geschäft. Die tragische Bilanz dieser Fahrt: eine getötete Lehrerin und viele verletzte Schülerinnen und Schüler, einige von ihnen schweben noch in Lebensgefahr.
Es ist eine Tat, die fassungslos und auch wütend macht.Denn das stand bis Mittwochabend fest: Es war kein Unfall oder etwa ein Schwächeanfall des Autofahrers. Die Berliner Polizei vermutet eine Amokfahrt. Augenzeugen berichteten, der 29-jährige Deutsch-Armenier habe nach der Fahrt über den Gehweg sein Auto gestoppt, um es wieder unter Kontrolle zu bekommen, und dann noch mal richtig Gas gegeben.
Der Mann versuchte noch zu flüchten, doch er konnte von der Polizei festgenommen werden. In seinem Fahrzeug wurde später "ein Papier" gefunden, ob es ein Bekennerschreiben war, war zunächst unklar. Wie auch die Frage, was ihn zu seiner todbringenden Tat trieb. Dies zu klären, ist nun Aufgabe der Ermittler.
Für die Familien und Freunde der Opfer ist das Motiv zweitrangig. Ihre Angehörige oder ihre Freundin, eine Lehrerin aus Hessen, die mit ihren Schülerinnen und Schülern in Berlin auf Klassenfahrt war, hat durch diese sinnlose Todesfahrt ihr Leben verloren. Der Schmerz und die Trauer, sie überwiegen am gestrigen Mittwoch, tröstende Worte, sie werden gesprochen, und es fällt doch so schwer, sie wahr- und anzunehmen an einem solchen Tag.
In Berlin werden ebenso schreckliche Erinnerungen wach. Denn die Todesfahrt ereignete sich in Sichtweite des Breitscheidplatzes - dem Ort, an dem vor fünfeinhalb Jahren, im Dezember 2016, ein islamistischer Attentäter mit einem gestohlenen Lkw in den Berliner Weihnachtsmarkt gerast war. 13 Menschen starben damals, mehr als 60 wurden verletzt - und viele von ihnen leiden bis heute unter den Folgen des Attentats, sind traumatisiert und in therapeutischer Behandlung. Das Leben von so vielen Menschen ist damals zerstört worden.
Und damals wie heute stellt sich die Frage: Wie können wir uns in dieser freien Gesellschaft schützen? Vor extremistischen Attentätern, aber auch vor Amokläufern oder Amokfahrern? Gibt es ihn überhaupt, den perfekten Schutz? Der Breitscheidplatz ist in den vergangenen Jahren gesichert worden, mit größeren und kleineren Absperrungen, mit Pollern, Lkw-Sperren oder Gitterkörben.
Viele Berliner sind unzufrieden mit diesen Maßnahmen, denn das subjektive Sicherheitsgefühl ist dadurch nicht erhöht worden. Außerdem verschandeln die Poller und Absperrungen den zentralen und historisch so bedeutsamen Platz an der Gedächtniskirche. Möglicherweise wird oder wurde mit den Absperrungen verhindert, dass ein Amokfahrer erneut auf den Platz rast, aber wie der gestrige Tag zeigt, kann eine Todesfahrt nur wenige hundert Meter weiter erneut Menschen töten und verletzten.
Vor fünfeinhalb Jahren, nach dem Attentat am Breitscheidplatz, das auch ein Anschlag auf unsere freiheitliche und christlich geprägte Gesellschaft, auf unsere Art zu leben war, war für uns Berliner klar, dass wir genau diese Werte verteidigen müssen. Nach der Todesfahrt am Mittwoch sind noch viele Fragen offen - auch die, ob die Tat hätte verhindert werden können, warum der Mann, der der Polizei bekannt war, sein Auto zu einer tödlichen Waffe machte. Fragen, auf die die Angehörigen der Opfer, aber auch wir alle Antworten brauchen.
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