"Berliner Morgenpost": Was Selenskyj erreicht hat - Leitartikel von Peter DeThier zu Selenskyj in den USA
Berlin (ots)
Es war schon bemerkenswert, wie ein ausländischer Regierungschef so kurz vor Weihnachten das politische Geschäft in Washington zum Stillstand bringen konnte. Doch es war ein besonderer Besuch zu einem besonderen Zeitpunkt.
Vor dem Hintergrund einer harten Deadline, die ohne einen Deal zu einem weiteren "Shutdown", einem lähmenden Verwaltungsstillstand geführt hätte, stritten Demokraten und Republikaner parallel um die letzten Einzelheiten eines neuen Haushaltsgesetzes. Ein Gesetz, das auch für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj von Bedeutung ist. Schließlich sind darin 45 Milliarden Dollar an Direkthilfe und militärischer Unterstützung vorgesehen, die seinem Land im Kampf gegen den russischen Aggressor helfen werden.
Doch ungeachtet des politischen Tauziehens auf dem Kapitolshügel und der hektischen Weihnachtseinkäufe, die die Amerikaner in letzter Minute tätigen, gelang es Selenskyj, für kurze Zeit die Nation in seinen Bann zu ziehen. Mit einer bewegenden Pressekonferenz im Weißen Haus und einer knapp halbstündigen Rede vor beiden Kammern des Kongresses konnte er auch Durchschnittsamerikanern, die vom russischen Angriffskrieg nur durch gelegentliche Fernsehberichte erfahren, das Leid und Elend seiner Landsleute näherbringen.
Dabei bestand das wichtigste Publikum nicht aus den Millionen US-Bürgern, die seine Auftritte zu Hause auf dem Bildschirm verfolgten. Selenskyjs Appelle galten in erster Linie dem Publikum im Plenarsaal des US-Kapitols. Denn: Die Parlamentarier werden nicht nur im Moment, sondern auch in Zukunft darüber zu entscheiden haben, wie weit sie den Geldhahn für die Ukraine aufdrehen wollen. Eingetütet waren bei Selenskyjs Besuch schon jene knapp zwei Milliarden Dollar an Militärhilfe, die Präsident Joe Biden ihm vorher zugesagt hatte. Eine strategisch wichtige Hilfe - weil darin auch eines der Patriot-Raketenabwehrsysteme enthalten ist, um die Kiew schon seit Monaten gebeten hatte.
Die entscheidende Frage ist aber nun, wie großzügig die Politiker in Washington in Zukunft vor dem Hintergrund einer drohenden Rezession sein werden. Als der Kongress im Mai ein massives Hilfspaket bewilligt hatte, waren die Sorgen um einen möglichen Konjunktureinbruch in den USA nicht annähernd so ausgeprägt wie heute. Folglich argumentieren viele Republikaner, dass mehr für die Belebung der eigenen Wirtschaft getan werden sollte, anstatt massive Beträge an ein Land zu schicken, gegenüber dem Amerika schon deswegen nicht in der Pflicht steht, weil die Ukraine nicht der Nato angehört.
Eine wichtige Rolle wird auch die bevorstehende Kräfteverschiebung im US-Repräsentantenhaus spielen, wo die Republikaner ab Januar die Mehrheit stellen werden. Kevin McCarthy, der dort aller Voraussicht nach Nancy Pelosi als Mehrheitschef ablösen wird, sagte, er wolle "keinen Blankoscheck ausstellen". Dabei ließ Selenskyj anlässlich seines insgesamt gelungenen Besuchs in der US-Hauptstadt durchblicken, dass er - so wichtig die 45 Milliarden Dollar auch sind - in Zukunft weitere Forderungen an die USA stellen wird.
Der Gast aus Kiew kann mit den Zusagen, die er erhalten hat, zufrieden die Heimreise antreten. Sobald aber in Washington im Januar die neue politische Realität Einzug hält und die Republikaner ein größeres Mitspracherecht haben, könnte er mit neuen Wünschen auf taube Ohren stoßen.
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