Super-Autokrat Erdogan
Trotzdem darf der Westen nicht in die Dämonisierungsfalle tappen
Leitartikel von Michael Backfisch
Berlin (ots)
Auch wenn Recep Tayyip Erdogan nach 20 Jahren an der Macht Verschleißerscheinungen aufweist: Er wurde erneut zum türkischen Staatschef gewählt. Das Bild des starken Mannes kommt immer noch in weiten Teilen des Landes an. Der Präsident mag in großen Städten wie Istanbul und Ankara sowie bei Jugendlichen nicht mehr über die gleiche Zugkraft wie in früheren Jahren verfügen: Doch vor allem in ländlichen Gegenden und bei Frauen punktet er nach wie vor. Der Westen muss zur Kenntnis nehmen, dass die türkische Gesellschaft noch immer religiös grundiert und anfällig für autoritäre Machtmuster ist.
Zudem spielt Erdogan mit Erfolg die nationale Karte. Sein strammer Kurs gegen die Kurden wird ebenso von einer Mehrheit geteilt wie seine nationalistische Außenpolitik. Der Präsident positioniert die Türkei als globalen Akteur, der zwischen den USA, Russland und China eine bedeutende Rolle spielt. Mit der Co-Vermittlung des Getreide-Abkommens zwischen Kiew und Moskau ist ihm sogar ein diplomatischer Coup gelungen.
Erdogan wird nun versuchen, seine Macht weiter zu zementieren. Noch mehr Oppositionelle, Intellektuelle und Andersdenkende werden im Gefängnis landen. Die Institutionen und Gerichte des Landes tanzen dann endgültig nach der Pfeife des Sultans von Ankara. Auch in der Türkei droht eine Super-Autokratie. Möglicherweise strebt Erdogan eine Änderung der Verfassung an, die ihm eine lebenslange Herrschaft sichert. Die Hyper-Autokraten Wladimir Putin (Russland) und Xi Jinping (China) haben es vorgemacht. Beide ließen sich den Blankoscheck auf unbefristete Macht pseudodemokratisch durch ein Referendum beziehungsweise ein Votum des Volkskongresses ausstellen.
In der Außenpolitik bewegt sich Erdogan weg vom Westen und hin zum Osten. Die Sanktionen gegen Russland trägt die Türkei nicht mit. Vielmehr ist das Land Steigbügelhalter für Exporte nach Russland. So geht ein Teil der türkischen Importe unter Umgehung der wirtschaftlichen Strafmaßnahmen Richtung Norden und füllt Putins Kriegskasse.
In der Flüchtlingsfrage wird der wiedergewählte Präsident weiter Schicksal mit der EU spielen. Knapp vier Millionen Migranten hat die Türkei aufgenommen - auch ein Ergebnis des im März 2016 geschlossenen Deals mit der EU. Wann immer es Erdogan passt, wird er Brüssel drohen: "Wir öffnen die Tore."
Beim Nato-Beitritt Schwedens dürfte Erdogan am Ende einlenken. Die Regierung in Stockholm hat die Anti-Terror-Gesetze unter dem Druck von Ankara bereits verschärft. Zudem will die Türkei dringend die amerikanischen F-16-Kampfjets, die der US-Kongress wegen Schwedens blockierter Mitgliedschaft in der Allianz auf Eis gelegt hatte. Doch für den Westen wird die Türkei als Nato-Partner zunehmend unberechenbar.
Dennoch bringt es nichts, nun die große Verbalkeule Richtung Erdogan zu schwingen. Der Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen, wie von EVP-Chef Manfred Weber gefordert, wäre lediglich eine symbolische Aktion. Erdogan würde sein Verhalten nicht um einen Millimeter ändern - die Gespräche liegen ohnehin auf Eis. Der Westen sollte gegenüber Erdogan Klartext reden, ohne in die Dämonisierungsfalle tappen. Besser wäre, wenn sich EU und Nato der Türkei als die verlässlicheren Partner präsentieren als Russland oder China. Im Übrigen: Auch für Erdogan gibt es keine politische Ewigkeitsgarantie. Die Türkei ist mehr als ihr Präsident.
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