Berliner Morgenpost: Kommentar Europawahl
Berlin (ots)
Europa wählt aber nur eine Minderheit seiner Bürger wird wohl hingehen. 450 Millionen Bürger, 340 Millionen Stimmberechtigte: Europa ist der größte Wahlraum der Welt. Doch das Klischee überlagert die Realität: Bürgerfern, blutleer, bürokratisch, das sind noch die mildesten der weit verbreiteten Urteile, Vorurteile gegenüber Europa. Raffgierig, regelungswütig, ein kafkaeskes Verwaltungsmonstrum das ist der Standard. Die Wirklichkeit ist eine andere, und obgleich sie in diesen Tagen vor der Europawahl von vielen Dächern tönte, dringt sie nicht durch den zähen Schleim, der das Klischee schützend umgibt. Tatsächlich sind knapp 80 Prozent der Gesetze, die der Bundestag verabschiedet, Umsetzung von europäischem in nationales Recht. Das Straßburger Haus entscheidet gleichberechtigt mit dem Rat der Regierungen über das EU-Budget. Dass Europas Bürger die Spiele der Fußball-EM unverschlüsselt im Fernsehen empfangen können, verdanken sie dem Engagement des Europaparlaments. Demnächst werden den Kunden bei Verspätung die Flugpreise von den Airlines zurückerstattet. Auch die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes, die beispielsweise die Einführung von Billig-Vorwahlnummern ermöglichte, trägt die Handschrift des EU-Parlaments. Wenn Europas Regierungschefs sich in der kommenden Woche auf die Verfassung einigen, dann wird der Kommissionspräsident in der Zukunft vom EU-Parlament direkt gewählt werden und dann wird es endlich einen echten Wahlkampf der Kandidaten in einem einheitlichen europäischen Wahlraum geben. Dass das Europaparlament den Bürgern so fern ist, ist zum Teil im System selbst angelegt: Im Straßburger Haus gibt es, anders als in nationalen Parlamenten, nicht die Spaltung in ein Regierungs- und ein Oppositionslager. Das lähmt die Kraft des parlamentarischen Streits. Außerdem tragen viele Europaabgeordnete nicht gerade dazu bei, das Image ihres Parlaments zu verbessern: Wer sich ein Einheitssalär vom 9000 Euro genehmigen will, darf über schlechte Presse nicht klagen. Der Bürger, der all das bemängelt, sollte heute sein Recht wahrnehmen, mitzubestimmen in Europa. Es dürfte sich lohnen: Schließlich ist das EU-Parlament die am meisten unterschätzte Institution in Europa.
ots-Originaltext: Berliner Morgenpost
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