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BERLINER MORGENPOST

Berliner Morgenpost: Kommentar Rechtschreibreform

Berlin (ots)

Kein zweiter deutscher Stamm verfügt über soviel
Sprachwitz wie die Berliner. Deshalb konnte es kaum verwundern, dass
in der deutschen Hauptstadt der Widerstand gegen die
Rechtschreibreform so früh entbrannt ist. Die neue Orthographie engt
die Ausdrucksvielfalt empfindlich ein. Und die Berliner „Schnauze“ –
sprich: die Berliner „Pranke“ – sie nahm schon frühzeitig Anstoß
daran. Von Berlin gingen wichtige Impulse im Kampf gegen die
Anordnung neuer Schreibweisen aus – einem Kampf, der jetzt mit dem
Rückzug der Verlage Axel Springer und „Spiegel“ aus der
Rechtschreibreform einen neuen Höhepunkt erreicht. „Wir
Deutschlehrer, die wir zum Teil jahrzehntelang mit der Materie
befasst sind, fühlen uns bei dieser von außen oktroyierten Reform in
jeder Weise übergangen“, hatten die Lehrer der Kopernikus-Oberschule
in Steglitz schon 1997 in einer Eingabe an Kultursenatorin Stahmer
argumentiert. Sie führten bittere Klage gegen Regeln, die „weder vom
sprachwissenschaftlichen noch sprachgeschichtlichen Standpunkt
durchdacht und genügend qualifiziert“ seien. Hätte man auf sie
gehört, so wäre den Berliner Schülern der Krampf einer Reform erspart
geblieben, die dazu geführt hat, dass Schüler Schreibweisen lernen,
die in der Literatur nicht vorkommen und die von der Mehrheit der
Bevölkerung abgelehnt werden. Es waren Berliner, die später Tausende
Unterschriften gegen die Reform sammelten. Fast wäre es ihnen sogar
gelungen, einen Volksentscheid zu erzwingen. Erst jetzt gestehen
Kultusminister ein, dass an den Schulen mehr Rechtschreibfehler als
früher gemacht werden und dass die Beziehung zum Geist der Sprache
verloren zu gehen droht. Der Schritt der großen Verlage zurück zur
klassischen Rechtschreibung ist deshalb ein Befreiungsschritt. Vor
allem befreit er aus der Hörigkeit gegenüber einer obrigkeitlichen
Regelungswut, wie sie selbst der Kaiserzeit, der Zeit des großen
Schriftreformers Konrad Duden, fremd gewesen ist. Beklemmend an dem
fehlgeschlagenen Experiment Rechtschreibreform ist, dass hier Kinder
zu Versuchskaninchen gemacht wurden. Um es ihnen zu ersparen, in zwei
Schriftkulturen aufzuwachsen, sind die Verlage den Weg der Reform
lange mitgegangen. Doch die Neuerungen funktionieren nicht. Wer es
mit der Pädagogik ernst meint, muss das Experiment abbrechen.
ots-Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe:
http://www.presseportal.de/story.htx?firmaid=53614

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