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BERLINER MORGENPOST

Berliner Morgenpost/Endspiel für die Ampel/Leitartikel von Tobias Kisling

Berlin (ots)

Britische Wirtschaftszeitungen bezeichnen Deutschland bereits wieder als "kranken Mann Europas". Das letzte Mal, als der "Economist" mit einer solchen Karikatur für Aufsehen sorgte, ist ein Vierteljahrhundert her. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Sozialabgaben auch, die Wirtschaft lahmte. Es folgte Gerhard Schröders Agenda 2010. Eine Kraftanstrengung voller Zumutungen, bisweilen mit sozialer Kälte. Aber: ein wirtschaftlicher Erfolg, der es nach der überstandenen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise verschiedenen Regierungen über eine Dekade ermöglichte, neuen Wohlstand zu verteilen.

Die Parameter sind heute andere als zu Beginn des Jahrtausends. Und doch ist die Wirtschaft derart aus dem Tritt gekommen, dass selbst bei schlechten Nachrichten schon ein resigniertes Schulterzucken einsetzt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht Deutschland als Schlusslicht unter den großen Industrienationen? Nichts Neues. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) korrigiert die Wirtschaftsaussichten nach unten? Hatten doch ohnehin alle erwartet.

Wirtschaft hat viel mit Psychologie zu tun, sowohl bei unternehmerischen Investitionen als auch beim privaten Konsum. Die Stimmung im Land ist aber mittlerweile nachhaltig schlecht, von Aufbruchstimmung keine Spur. Dabei war die Ampelkoalition angetreten, um mit Reformen das Land nach vorne zu bringen. Eine "Fortschrittskoalition" wollte sie werden. Und sie handelte phasenweise fortschrittlich und pragmatisch, etwa als im Eiltempo in der Energiekrise die Flüssiggasterminals errichtet wurden. Doch für die strukturellen Probleme findet sie keine große Antwort. Immerhin: Die Wachstumsinitiative kann womöglich Impulse setzen. Der große dauerhafte Schub dürfte aber ausbleiben.

Die Krise droht damit zum Endspiel für die Koalition zu werden. Am Donnerstag wird Finanzminister Christian Lindner (FDP) die Steuerschätzung vorstellen. Das ohnehin schon ungewöhnlich große Haushaltsloch in Höhe von zwölf Milliarden Euro droht dann noch einmal ein ganzes Stück tiefer zu werden. Die Frage, wo gespart werden muss, wo noch investiert werden kann, hat das Potenzial, die Koalition vorzeitig zu zerreißen. Schon jetzt scheinen die drei Koalitionspartner den Wahlkampf eingeläutet zu haben, es gibt einen Überbietungswettbewerb an Ideen. Habeck fordert einen Investitionsfonds, bei dem der Staat zehn Prozent der Investitionskosten übernehmen könnte. Wie man ihn finanzieren will, wenn man noch nicht einmal den bisherigen Haushalt auf sichere Beine gestellt bekommt, sei dahingestellt. Neue Sondervermögen sind mit ihm jedenfalls nicht einfach zu machen, stellt Finanzminister Lindner bei nahezu jeder Gelegenheit klar. Und überhaupt will die FDP erst mal den Rotstift ansetzen, etwa beim Bürgergeld, und mit den so frei werdenden Mitteln für steuerliche Entlastung sorgen.

Und dann ist da noch der Mann, der im vergangenen Jahr vollmundig ein neues "Wirtschaftswunder" versprach: Kanzler Olaf Scholz. Er setzt darauf, dass seine einstige Arbeiterpartei SPD bei der Industrie wieder punkten kann, fordert einen Industriepakt und verspricht beim Arbeitgebertag nahezu beiläufig, dass bürokratische Belastungen wie das Lieferkettengesetz bis zum Jahresende "weg kommen". Das glaube er erst, wenn die Tinte trocken sei und es im Betrieb ankomme, entgegnet Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Ein Vorgang, der zeigt: Das Vertrauen der Wirtschaft in die Koalition ist aufgebraucht. Eine große Wirtschaftswende scheint so nicht möglich.

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