Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Zum EU-Gipfel: Ohne Verfassung ein Fehlschlag - Leitartikel von Knut Pries
Essen (ots)
Die europäische Verfassung ist nicht tot, sie riecht nur komisch? Mag sein, doch der Unterschied ist nicht groß. Nächste Woche wird sie beerdigt. Was immer die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten zustande bringen - eine Verfassung wird es nicht mehr sein, und das bleibt als Fehlschlag zu verbuchen.
Was einen Teilerfolg des bevorstehenden Gipfels (und donnerndes Selbstlob der Beteiligten) nicht ausschließt. Und natürlich ist zu hoffen, dass es der Union gelingt, sich mit einer patenteren Geschäftsordnung auszustatten; dass die Zuständigkeiten klarer abgegrenzt werden; dass Javier Solana als Repräsentant der gemeinsamen Außenpolitik endlich auch die Mittel dazu in die Hand bekommt, dass die Blockade-Möglichkeiten eingedämmt werden und die Volksvertretung in mehr Bereichen mitentscheidet; dass der Bürger einklagbare Grundrechte verbrieft bekommt.
Das alles ist keineswegs sicher, aber durchaus noch drin und wäre ein Fortschritt. Wenn er kommt, werden zahlreiche Mitwirkende sagen: Verfassung? Lebt doch, nur unter anderem Namen. Das aber stimmt leider nicht.
Zur Erinnerung: Das, worum es jetzt geht, ist die Beseitigung von Mängeln, die aus dem vorigen Jahrhundert stammen und nach jeder Vertragsrevision weitergeschleppt wurden. Also, sprach nicht nur Joschka Fischer, brauchen wir eine Verfassung. Verfassung ist Recht, bei dem Juristen nicht das letzte Wort haben. Das Großgedruckte, das jeder nach Hause tragen kann. Verfassung ist der Versuch, dem Bürger seine EU so nahe zu bringen, dass er sie sich als solche zu eigen macht. Den Auftrag hatten sich die Staats- und Regierungschefs 2003 erteilt, als sie demokratische Legitimität und Transparenz als Schlüsselerfordernisse des neuen Vertrags identifizierten.
Vorbei. Das Gegenteil wird passieren. Das erklärte Ziel ist nicht mehr, dem Bürger die Augen zu öffnen, sondern ihm Sand in dieselben zu streuen. Der Vertragstext soll möglichst unverständlich werden, damit, je nach innenpolitischer Opportunität, die einen sagen können: Praktisch dasselbe wie unsere gute, alte Verfassung! Und die anderen: Hat damit nichts mehr zu tun! Bloß kein Referendum mehr, lautet das Motto, hinterher stimmt das Volk wieder dagegen wie in Frankreich und Holland. Das mag für die Regierungen der einzige Weg sein, jetzt noch aus dem Loch zu krauchen, das sie sich selbst gegraben haben. Zum Europa, das "zum Glück vereint" ist, führt er nicht.
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