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WAZ: Krach in der Großen Koalition: Die Zeit der Nichtmöglichkeiten - Leitartikel von Angela Gareis
Essen (ots)
Nachts im Kanzleramt hat Franz Müntefering ein "paar Ausrutscher an Lautstärken" erlitten, wie er bei Tageslicht ruhig einräumt. Schon oft gab es Streit in der Großen Koalition, aber jetzt ist ein kapitaler Koalitionskrach da, auch wenn Müntefering ihn in gezähmter Tonlage beschreibt. Er spricht über Empörung und Zorn und über Moral - immer mit dem Blick auf den Mindestlohn und auf die Union. "Die Lehre ist, dass man den Mindestlohn nicht mit der Union machen kann, sondern gegen sie machen muss, irgendwann", sagt der Vizekanzler.
Der Satz klingt nach vorgezogenem Wahlkampf, beinhaltet aber auch die Tatsache, dass der Vorrat an Vertrauen zwischen Kanzlerin und Vizekanzler aufgebraucht ist. Das muss man als relativ dramatisch bewerten, wenn man bedenkt, dass die Große Koalition nicht einmal zwei Jahre regiert. Alles, was bisher möglich war, war nur möglich, weil Franz Müntefering und Angela Merkel gut miteinander umgehen konnten.
Aus Sicht des Vizekanzlers hat die Kanzlerin den Bruch zu verantworten. Bei der Rente mit 67 und bei der Unternehmenssteuerreform hat sich die SPD, bedrängt von der Linkspartei und miserablen Umfragewerten, viel zugemutet. Beim Mindestlohn, bei diesem einzigen identitätsstiftenden Thema, das die SPD noch für sich gefunden hat, sollte die Union ihr entgegenkommen. Aber dieses Ergebnis der Koalitionsrunde möchte Müntefering ganz bewusst nicht einmal als Kompromiss bezeichnen.
Ein Kompromiss würde Einigung signalisieren, aber die SPD will den Mindestlohn flächendeckend einführen, zunächst im Wahlkampf. Im kommenden Jahr wählen Hessen, Niedersachsen, Hamburg und Bayern. Der Mindestlohn taugt auch zu Reparaturarbeiten am Verhältnis zu den Gewerkschaften und ist eventuell bis zur nächsten Bundestagswahl haltbar. Bloß, wie die Große Koalition bis dahin ihre Tage sinnvoll verbringen will, das kann man sich schwerlich vorstellen. Der G-8-Gipfel ist vorbei und mit dem Ende der EU-Ratspräsidentschaft hat Merkel viel Gelegenheit, sich um die Innenpolitik zu kümmern. Deshalb begibt sich das Kabinett im August in Klausur, um zu überlegen, was man gemeinsam noch reformieren könnte. Vielleicht nichts.
Der Vizekanzler hat gestern beiläufig ein interessantes Wort erfunden. Er sagte, es gebe Möglichkeiten und Nichtmöglichkeiten. Vermutlich war die erste Hälfte der Legislatur die Zeit der Möglichkeiten, und jetzt ist die Zeit der Nichtmöglichkeiten angebrochen.
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