Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Kaczynski und die Weltkriegsopfer: Die Entgleisung eines Desperados - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Die internationale Diplomatie ist nun um eine Geschmacklosigkeit reicher. Auf polemische Weise die Last der Geschichte in aktuelle europäische Verhandlungen einzubringen, als moralischen Knüppel sozusagen, ist ebenso überraschend wie abstoßend. Mehr Stimmen im Europäischen Rat als Wiedergutmachung für Geschichte: Das offizielle Warschau nimmt überdies nicht nur Deutschland in historische Haftung, sondern gleich den ganzen Rest Europas auch noch. Würde das Schule machen, wäre Europa schnell am Ende.
Kaczynski entwertet die Geschichte, wenn er sie zu einem Vehikel, einem Werkzeug aktueller (Macht-) Politik macht. Nur Idioten in Deutschland bestreiten den verbrecherischen Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen, die mehr als sechs Millionen Toten, das unendliche Leiden von Polen unter der deutschen Besatzung. Allerdings missversteht Kaczynski mit seinem Vergleich boshaft bewusst oder naiv unbewusst den wunderbaren Gründungsgedanken Europas. Die Europäische Union ist ein Werk der Aussöhnung, nicht der Aufrechnung.
Dass ganze Generationen deutscher Schulkinder sich intensiv mit der Geschichte des Dritten Reiches auseinandergesetzt haben, blendet der glühende Nationalist Kaczynski ebenso aus wie Willy Brandts Kniefall, die Entschuldigung Gerhard Schröders für die deutschen Kriegsverbrechen am 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands, den Einsatz Helmut Kohls für die schnelle Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union nach dem Mauerfall, die für den Historiker Kohl so etwas war wie eine zweite, europäische Wiedervereinigung nach jener der Deutschen.
In der internationalen Diplomatie ist die Gefahr groß, dass Desperados in Sekunden mit dem Hintern einreißen, was Besonnene in Jahren mit ihren Händen aufgebaut haben. Kaczynski ist ein solcher Desperado. Gott sei Dank nimmt ihn und seinen Bruder niemand richtig ernst in Europa. Wie man hört, machte der Mann der deutschen Kanzlerin schon allen Ernstes den Vorschlag, den Nachkommen der im 19. und 20. Jahrhundert nach Deutschland (besonders ins Ruhrgebiet) eingewanderten Polen wieder polnisch beizubringen; auf dass sie nie vergessen mögen, woher sie stammen. So etwas fällt nur verblendeten Nationalisten und ihren zynischen Helfern ein.
Erschreckend sind die Kaczynskis, weil sie Themen und Töne nach Europa tragen, die längst überwunden waren. Es wäre klug, Europa würde einmütig reagieren: So etwas, auf so etwas, wollen wir nie wieder hören.
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