Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Die Empörung im Fall Marco: Politik und Justiz, zwei Ebenen - Leitartikel von Stefan Wette
Essen (ots)
Allmählich kommt Licht in den Fall Marco. Und es scheint, dass es sich um einen fast normalen Kriminalfall handelt. Denn dass es nur ein harmloser Urlaubsflirt zweier Jugendlicher mit Händchenhalten und Knutscherei war, wie es anfangs wohl allein von Marcos Eltern in die Öffentlichkeit gebracht wurde, das hat sich nicht bestätigt. Die Einleitung eines Verfahrens durch deutsche Staatsanwälte zeigt, wie ernst das Strafrecht den Schutz der Sexualität Minderjähriger nimmt. Unaufgeregt muss geprüft werden, vor allem natürlich in der Türkei, was dem 17-jährigen Schüler aus Uelzen vorzuwerfen ist.
Einige Politiker, zum Teil auch wir Journalisten, neigen dazu, sich vorschnell festzulegen. In Parteien, Ministerien und Redaktionen ist nur selten Verständnis anzutreffen für die nach außen bedächtig wirkende, auch eigene Fehler selbst korrigierende Arbeit der Strafjustiz. Politik und Justiz - das sind zwei Ebenen. Dass Bundesaußenminister Steinmeier sich jetzt für die Freilassung eines im Ausland inhaftierten Deutschen einsetzt, ist ja noch in Ordnung. Aber er hätte ahnen können, dass es auch in der Türkei förmliche Ermittlungen gibt und Gründe, einen jungen Mann zehn Wochen in Haft zu halten.
Aber sogar der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker sieht sich noch am Mittwoch veranlasst, die Türkei zu warnen. Und der SPD-Europaabgeordnete Vural Öger prophezeit am selben Tag einen Freispruch für den Schüler, weil angeblich das Image der Türkei auf dem Spiel steht. Hat einer von denen, die sich so lautstark empören, eigentlich je in einem gewöhnlichen Strafprozess gesessen? Es macht sich auch niemand Gedanken darüber, was England sagen würde, wenn auf Grund deutschen Einflusses einem britischen Kind und dessen Eltern die Strafverfolgung des möglichen Täters in der Türkei verwehrt bliebe.
Diskutieren lässt sich über harte, manche sagen unmenschliche Haftbedingungen in der Türkei. Interessanterweise hat Marco selbst sich an dieser Kritik nicht beteiligt, als er von einem türkischen Journalisten interviewt wurde. Dass Knäste im Ausland nicht angenehm sind, ahnt allerdings jeder. Und seit Siegburg wissen auch wir, dass ein Jugendgefängnis in Deutschland ebenfalls kein Luxushotel ist.
Dem Fall wird es gut tun, wenn die öffentliche Empörung sich legt und er schnell verhandelt wird. Dann auch mit der Zurückhaltung, die ein minderjähriges Opfer und ein jugendlicher Täter verdient haben. Wenn sie es denn sind.
Pressekontakt:
Rückfragen bitte an:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Zentralredaktion
Telefon: (0201) 804-8975
zentralredaktion@waz.de
Original-Content von: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, übermittelt durch news aktuell