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WAZ: Der Rechtsstaat und die Schützen Die Täter werden straffrei bleiben - Leitartikel von Ulrich Reitz

Essen (ots)

Allen, die sich völlig zu Recht aufregen über die
kalte Brutalität, mit der Stasi-Schergen ausdrücklich befohlen wurde,
auch Frauen und Kinder an der Grenze umzulegen, und die nun erwarten,
dass die Täter endlich verurteilt werden, machen ihre Rechnung ohne 
die (west-)deutsche Justiz. Denn erschreckend aktuell ist die alte 
Feststellung der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, wonach man 
Gerechtigkeit gewollt, stattdessen aber den Rechtsstaat bekommen 
habe.
Die allermeisten Mauerschützen, die vor Gericht 
appetitlicherweise durchweg so argumentierten wie die 
Nazi-Kriegsverbrecher in den Nürnberger Prozessen 1946, kamen mit 
Bewährungsstrafen davon. Selbst solche, die sich nicht begnügten, auf
die Beine zu zielen. Von 111 Grenzsoldaten, die überhaupt angeklagt 
wurden, erhielten 61 eine Bewährungsstrafe; 44 wurden sogar 
freigesprochen. Nur zwei gingen ins Gefängnis.
Das war, entgegen jenen Sonntagsreden, die nach Gerechtigkeit 
riefen, politisch so gewollt. Es begann mit dem Einigungsvertrag, den
die Regierung Kohl mit der Regierung de Maiziere aushandelte. Der 
schrieb für Straftaten vor der Einheit die Gültigkeit des 
DDR-Strafrechts fort. Dass damit einer Diktatur sozusagen attestiert 
wurde, sich verhalten zu haben wie ein Rechtsstaat, wurde 
ausgeblendet; dass DDR-Gesetze vor allem SED-Gesetze waren, war egal.
Man musste sich also kaum wundern, als die Staatsanwaltschaft 
Neuruppin in einem Mauermörder-Prozess kühl feststellte: "Der Einsatz
einer Schusswaffe gegen eine Person, die nach den Gesetzen der DDR 
unerlaubt die Grenze überschreitet und sich dieser Festnahme durch 
Flucht entziehen wollte, ist nicht offensichtlich 
rechtsstaatswidrig." So konnten Nachwende-Juristen einen verzweifelt 
Freiheitsliebenden noch in einen Verräter umdeuten, der sich seinen 
staatlich angeordneten Tod quasi verdient hatte.
Der Bundesgerichtshof ließ unter Hinweis auf den Einigungsvertrag
überhaupt nur noch Verfahren zu, bei denen ein Flüchtling erschossen 
wurde. Dessen schwere Verletzung reichte nicht einmal aus für ein 
Verfahren. Dass die Flüchtlinge unbewaffnet, also völlig wehrlos 
waren, spielte gleichfalls keine Rolle. Die Ungerechtigkeit, die der 
deutsche Rechtsstaat beschloss, setzte sich fort bei den 
Renten-Regelungen, die dafür sorgten, dass Wärter des berüchtigten 
Bautzener Gefängnisses mehr bekamen als ihre Häftlings-Opfer.
Bleibt ergo die Frage, worüber man sich heute, am Jahrestag des 
Mauerbaus, denn ganz genau empören sollte.

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Telefon: (0201) 804-0
zentralredaktion@waz.de

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