Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Joschka Fischer greift Grüne an: Prozess der Entfremdung - Leitartikel von Ulf Meinke
Essen (ots)
Wie schon Gerhard Schröder betreibt nun auch Joschka Fischer Geschichtsschreibung in eigener Sache. Mit Unbehagen beobachten der Altkanzler und die Grünen-Eminenz, wie das Erbe ihrer Regierung verlottert. Die SPD wendet sich von der Agenda 2010 ab und beschädigt Schröders Reform-Vermächtnis. Fischers Grüne wiederum kehren mit ihren Beschlüssen beim Afghanistan-Sonderparteitag zurück zu einer traditionalistischen Außenpolitik.
Sein Leiden am Zustand der Grünen stellt der Bundesaußenminister a. D jetzt öffentlich zur Schau. "Es tut weh", kommentiert er die Afghanistan-Politik seiner (einstigen) Parteifreunde. "Man bezahlt einen hohen Preis, wenn man sich in Richtung Illusionen verabschiedet", raunt er im "Spiegel". Ein "alter Jagdhund" wie er denke natürlich sofort an die machtpolitischen Konsequenzen der aktuellen grünen Politik - nämlich bessere Chancen für den Fortbestand der Großen Koalition nach 2009. Der amtierende Real- und einstige Regierungspolitiker, der mittlerweile die private Beratungsfirma "Joschka Fischer Consulting" gegründet hat, gibt den Parteichefs Reinhard Bütikofer und Claudia Roth ungefragt Nachhilfe in Sachen Machtpolitik. Für die Grünen-Eminenz steht die Regierungsfähigkeit seiner Partei auf dem Spiel.
Der Patriarch versucht seine Partei auf eine sonderbare Weise zu erziehen: Er erteilt keine Ratschläge, sondern verteilt Schläge, spottet in seiner Rückschau über "Diskussionen mit Leuten, die manchmal kaum wissen, worüber sie reden". Die väterliche Enttäuschung hat ihre psychologischen Tücken. Warum eigentlich sollten die Grünen von heute auf jemanden hören, der von sich selbst sagt, er verfolge aktuelle Parteitage nicht einmal mehr im Fernsehen? Am Beispiel von Joschka Fischer und den Grünen ist auch ein außergewöhnlicher Prozess der Entfremdung zu beobachten. War die Beziehung womöglich nur ein großes Missverständnis? "Mein Ego braucht kein Amt und keine Bodyguards", sagt Fischer. Auch die Grünen sind offenbar für sein Selbstverständnis nicht mehr so wichtig.
Gerhard Schröder werde "als ein großer Kanzler in die Geschichtsbücher eingehen", prophezeit Fischer. Reform-Agenda, Riester-Rente, Ökosteuer, außenpolitisches Krisenmanagement - diese Bilanz soll auch dem grünen Vizekanzler einen historischen Eintrag garantieren. Ihm geht es längst nicht mehr um seine Partei. Sein Wahlkampf in eigener Sache hat vor allem Historiker im Blick. Joschka Fischers langer Marsch durch die Institutionen soll schließlich in den Geschichtsbüchern enden.
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