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WAZ: Müntefering legt Ämter nieder Rückzug mit erhobenem Haupt - Leitartikel von Lutz Heuken
Essen (ots)
Franz Müntefering hört auf. Als Bundesarbeitsminister, als Vizekanzler. Dass der Sozialdemokrat für seinen Rücktritt "rein familiäre Gründe" angibt, rettet zunächst die rot-schwarze Koalition. Denn hätte der Merkel-Stellvertreter politische Gründe genannt, die Brocken hinzuwerfen, die Große Koalition wäre wohl nicht zu retten gewesen. Welcher SPDler hätte die Arbeit des Mannes glaubwürdig fortsetzen sollen, der zuletzt bis zur Selbstverleugnung zur umstrittenen Agenda 2010 stand, um die Koalition nicht zu gefährden?
Müntefering hat sich einen würdigen Abgang verschafft. Er klebte nicht an seinem Posten, den er eher in Pflichterfüllung denn mit Lust an der Macht ausübte. Der knorrige und knurrige Sauerländer musste zuletzt bittere Niederlagen hinnehmen. Zunächst hatte Kurt Beck einen parteiinternen Coup gegen ihn gelandet, indem er Kernstücke der Agenda 2010 infrage stellte, für die Müntefering eisern und gegen Widerstände in der eigenen Partei gekämpft hatte. Und in der letzten Nacht fühlte sich Müntefering tief ge- und enttäuscht von Bundeskanzlerin Merkel, die ihn - offenbar trotz fester Zusage - in der Frage der Postmindestlöhne im Regen stehen ließ. Dass der 67-Jährige nun erhobenen Hauptes zurücktritt, wird ihm an der Parteibasis hoch angerechnet. Dass er sich künftig noch mehr um seine kranke Frau kümmern will, bewegt die Menschen jenseits aller Parteipolitik. Man wird in der SPD auch in Jahren noch von Franz Müntefering als einem "anständigen Kerl" sprechen. Wer die Partei und den Sauerländer kennt, weiß, was das beiden bedeutet.
Nun also Olaf Scholz? Er gehört ebenfalls dem pragmatischen Reformerflügel der SPD an, hat aber längst nicht das politische Kampfgewicht eines Münte. Auch seine Ernennung ist ein klares Signal, die Koalition fortzuführen. Hätte die Partei - wie gestern morgen spekuliert - die Linke Andrea Nahles ins Kabinett geschickt, es wäre eine Kampfansage an die Union gewesen.
Für Beck kam die Müntefering-Nachfolge ohnehin nicht infrage. Seit dem Parteitag weiß der Pfälzer, dass er durch Opposition zur eigenen Regierung punkten kann. Das aber kann er nur, wenn er nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden ist. Beck will den nächsten Wahlkampf führen. Mit Müntefering verlässt zwar ein Widersacher die Bühne, mit dem neuen Vizekanzler Steinmeier erwächst ihm allerdings ein neuer Rivale. Für die SPD jedenfalls ist der Müntefering-Abgang ein herber Verlust. Die Partei verliert eine Persönlichkeit. Und eine Type.
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