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WAZ: Ist die neue Beweglichkeit gut? Schwarz-Grün - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Schwarz-Grün hat einen guten Ruf. Jedenfalls in bestimmten Kreisen, die für sich in Anspruch nehmen: Wo der gesellschaftliche Fortschritt ist, da sind wir zuhause. Die Avantgarde, die Trendsetter, die Modernen, das sind wir. Die Anderen, die sind von gestern: immer noch verhaftet in der alten Arbeitsgesellschaft, oder, auf der ideologisch gegenüberliegenden Seite, bürgerlich im Sinne von spießbürgerlich.
Wahrnehmung und Wirklichkeit können allerdings grundverschieden sein. Schwarz-Grün lässt sich auch denken als: unbewegte, unbewegliche Idylle. Als Knut. Hübsch anzusehen, lieb und nett, und: völlig harmlos. Nicht als Fort-, sondern als Rückschritt. Beide Möglichkeiten: Moderne wie Anti-Moderne, lassen die ideologischen Strömungen zu, die sich bei Grünen wie bei Schwarzen finden. Bei den Grünen ist in jüngster Zeit das freiheitliche Moment eher auf dem Rückzug, der staatstragende, bürokratieorientierte Flügel, der sich auch nicht scheut, ganz konkret Lebensbedingungen von uns anderen Menschen zu steuern, erlebt eine Wiederkehr. Bei der Union ist es auch nicht viel anders: Der liberale Flügel, der auf Selbstbestimmung setzt und daher den Staatsanteil in jeder Beziehung zurückdrängen will, ist auf dem Rückzug, falls es ihn überhaupt noch gibt. Wer "Sicherheit" propagiert in der Union, der läuft auch Gefahr, Geld zu verteilen, das eigentlich nicht da ist. Wer selbst "Sicherheit" sagt, will anderen nicht unbequem werden.
Was nun kommt heraus, wenn sich der staatswirtschaftliche Flügel der Grünen mit dem sozialkonservativen der Union verbindet? Bestenfalls eine fortschrittliche Fassade, mehr aber sicher nicht.
Mit anderen Worten: Bei Schwarz-Grün wird man schon genau hingucken müssen. Wir sollten diesem Bündnis nicht per se bescheinigen, für die Moderne, den Fortschritt, das Morgen zu stehen. Ob man in einer solchen Formation mehr regieren kann als eine Hansestadt, die ohnehin im Aufschwung ist, wissen wir noch nicht. Es ist aber genauso zweifelhaft, dass es Menschen bei Schwarz-Grün grundsätzlich besser ergeht, wie bei den anderen möglichen Bündniskombinationen.
Und die schöne neue Beweglichkeit, nach der angeblich jeder mit jedem kann, ist auch längst noch kein automatischer Fortschritt. Zum Beispiel nicht unbedingt für Wähler. Wenn alles möglich ist, büßen die Wähler Spielraum ein zugunsten der Parteien. Wenn Grün auch Gelb heißen kann (in einer Jamaika-Koalition), macht das weder überzeugte Grüne noch Liberale froh.
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