Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Westen verspielt seine Chance - Politische Hasenfüße - Leitartikel von Willi Germund
Essen (ots)
Eine Verstärkung ausländischer Truppen mache nur Sinn, wenn sie in die "Fläche und Breite" gehen würde. Dies erklärte der Leiter des Generalstabs der Internationalen Sicherheitstruppen Isaf, der deutsche General Hans Lothar Domröse. Der Plan der Bundesregierung, statt 3500 bis zu 4500 Soldaten in Afghanistan zu stationieren, verstärkt das bisherige Engagement. Eine "Schnelle Eingreiftruppe", die norwegische Einheiten ersetzt, und die notwendige Verstärkung für das Wiederaufbauteam (PRT) in Kunduz aber stellen den hilflosen Versuch dar, irgendwie den Status Quo im Norden des Hindukusch zu wahren, ohne innenpolitisch zu viel Staub aufzuwirbeln.
Es ist ein Akt politischer Hasenfüße. Die Jahre seit der Vertreibung der Taliban aus Kabul haben doch gezeigt, dass es so nicht weitergehen darf. Die Ausweitung der Aktivitäten der Milizen auf zwei Drittel des afghanischen Territoriums war nur möglich, weil weder Polizei noch Militär zu finden waren. Das ist eine Lektion aus dem Süden Afghanistans. In Kunduz zeichnet sich die gleiche Entwicklung ab.
Ein Abzug aus Afghanistan ist derzeit unmöglich. Mit halbherzigen Beschlüssen wie der Berliner Entscheidung werden aber Milliarden und schlimmstenfalls Soldaten sinnlos verheizt. Es wird vor allem aber eine vielleicht einmalige Chance verspielt. Denn die Taliban waren seit Jahren nicht mehr so schwach, so gespalten wie gegenwärtig: Rebellenführer Haqqani wetterte in einem offenen Brief gegen Talibangründer Mullah Omar. Gulbuddin Hekmatyar, ein anderer Regierungsgegner, verhandelt mit Staatspräsident Karzai über eine mögliche Allianz und ein Ende des bewaffneten Kampfs.
Die Taliban erlitten im vergangenen Jahr schwere Verluste. Viele Führer wurden durch unerfahrene "Gotteskrieger" ersetzt. Das Gebaren dieser radikaleren Generation stößt bei vielen Afghanen nicht auf Gegenliebe. Man kann sich kaum eine bessere Gelegenheit wünschen, mit militärischen Druck, verstärkter Präsenz und politischen Initiativen den Vorteil zu nutzen. Stattdessen hält der Westen an seiner Minimalstrategie fest. Das Ziel ist Stabilität, heißt es. Um es zu erreichen, wird auf Afghanen gesetzt, die eine blutbefleckte Vergangenheit besitzen - und ihren Landsleuten das Leben mit Willkür und Korruption schwermachen. Selbst bei Afghanen, die froh über ausländische Truppen am Hindukusch sind, wachsen Zweifel. Denn im Alltag erleben sie, wie sie von den Soldaten aus Deutschland bis Kanada als potenzielle Selbstmordattentäter betrachtet werden und nicht als Verbündete. So verspielt man seinen Kredit.
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