Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Studie: Immer mehr Rückenkranke - Unsere Medizin im Dilemma - Leitartikel von Petra Koruhn
Essen (ots)
Wie oft wurde sie gepriesen, die Spitzenmedizin in NRW. Medizintechnik, erstklassige Diagnose- und Therapieverfahren - und dann dies: Zwei Drittel aller Menschen in NRW leiden unter immer wiederkehrenden Rückenschmerzen, so die soeben veröffentlichte Studie der BKK. Was also helfen computergesteuerte Injektionstherapien, Kernspin oder teure Tabletten? Fragt man den Patienten: nicht viel.
Was die Behandlung dieser Epidemie angeht, befinden wir uns in einem Dilemma. Wir verfügen - längst nicht nur in NRW, nein in ganz Deutschland - über eine Medizin, die zwar Spitze ist, aber nicht hilft. Oder zumindest deutlich zu wenig hilft. Jedenfalls ist es eine Medizin, die den Menschen leider viel zu oft alleine lässt.
Rückenkrank ist kein Markenzeichen für NRW. Rückenkrank ist man auch in Rheinland-Pfalz oder in Bayern. Es ist auch eine Folge der Demografie. Älter werden geht auf die Bandscheibe. Alleinstellungsmerkmal hat NRW aber in einem Punkt: Verschleiß! NRW ist das Land der Industriearbeitsplätze. Schwere körperliche Arbeit ist Gift für den Rücken. Aber genauso wenig bekömmlich ist eine hohe Arbeitslosigkeit.
Viel stärker als es bisher geschieht, muss die Ursache der Rückenkrankheit im psychischen Bereich gesehen werden. Das sagen Psychologen, aber längst nicht nur sie. Der Schmerztherapeut Hans-Heinrich Raspe von der Universität Lübeck warf unlängst die Frage auf, warum Ärzte nicht sehen wollen, dass Rückenschmerzen Teil eines tiefgründigen Prozesses sind? Warum Ärzte ihre Patienten regelrecht ermuntern, den Schmerz als Problem zu sehen, das sie ausschließlich im Rücken haben?
Statt den Patienten in den Behandlungsdschungel zu schicken, müssten sich neue Wege ergeben. Fango und Co. sind ja nicht schlecht - aber wo bleibt die Seelenarbeit? Dass Rückenschmerz oft ein Ausdruck von Depressionen ist, hat sich zwar herumgesprochen - aber in der Praxis findet sich dafür nur selten ein Ansprechpartner.
Bevor man den Patienten auch noch zum Psychologen schickt, sollten Versorgungsnetze her, in denen alle Kapazitäten vertreten sind. Dass stattdessen mal nichts, mal alles - also die ganze Maschinerie der Hightech-Medizin - über den Rücken gestülpt wird, sind beides Zeichen der Hilflosigkeit. Erschütternd, wenn man den volkswirtschaftlichen Schaden von zwanzig Millionen Euro pro Jahr sieht. Noch erschütternder, wenn man das Leid der Leute betrachtet, für die der Alltag ein Kreuz ist.
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