Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Auftakt zur Kulturhauptstadt - Zollverein, ein Wintermärchen - Leitartikel von Jens Dirksen
Essen (ots)
Vielleicht hat Fritz Pleitgen, der Ruhr.2010-Chef, eine Etage zu hoch gezielt, als er beim schneeverstöberten Auftakt zur Kulturhauptstadt auf Zollverein das alte Goethe-Wort im Munde führte: "Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Damals, bei der Kanonade von Valmy, ging es um ein militärisch tatsächlich eher unbedeutendes Ereignis. Aber mental war es eine Wende, als die französischen Revolutionstruppen erstmals den Preußen standhielten, so dass Goethe sicher war: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus."
Nun, in Essen ging es wohl um eine Episode für Europa. Und um das Festhalten an der eher abseitigen Idee, die Eröffnung der Kulturhauptstadt Anfang Januar unter freiem Himmel zu feiern - und sollte er noch so freigebig Flocken und eisige Temperaturen spendieren. So bekam ein tapferer Bundespräsident die Chance, seine Sympathie fürs Revier nicht nur mit Worten zu beweisen, sondern in Hut und Mantel. Und Jose´-Manuel Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, verbeugte sich auf beinahe halsbrecherische Weise vor der Region, indem er dem Revier seine Eloge auf Deutsch entbot - auch das geschieht ja nicht alle Tage.
Staatsoberhäupter, Minister und die geladene Prominenz mussten den widrigen Bedingungen trotzen - an einem Ort, an dem sich früher die Malocher quälten: Das hatte vielleicht mehr Ironie als Symbolkraft. Aber im Revier ist man es eben gewohnt, auch bei widrigen Umständen durchzuhalten, zusammenzuhalten. Herbert Grönemeyers zärtliche Hymne "Komm zur Ruhr" wärmte denn auch von innen. Und wie gewollt ließ der Schneefall allmählich nach, als sich der Festakt zu einem großen Volksfest öffnete.
Nun war wieder die mächtige Industrieruine Zollverein der Star, sie war Rostmoderne mit Zuckerguss - und endlich von Menschen bevölkert. Der Schnee lag als sanft dämpfender Zauber über allem und ließ die vielen farbigen Lichter in der Dunkelheit umso heller leuchten. Am meisten aber strahlte in allem die Neugier der vielen Besucher, die übers weite Gelände strömten und sich anziehen ließen von Operngesang, von Kunstinstallationen und Filmprojektionen an einem Ort, an den sie eigentlich nicht hingehören. Die Offenheit für das Abseitige, das Ungewohnte, das Neue: Im Revier ist das ideale Publikum zu Hause, auch jenseits der Fußballstadien.
Zollverein war ein Wintermärchen. Und ja: Wir sind liebend gern dabeigewesen.
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