Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Abschied und Neuanfang: Der ostwestdeutsche Vorsitzende - Leitartikel von Angela Gareis
Essen (ots)
Die SPD ist bekanntermaßen eine komplizierte Partei, meist pessimistisch, weil sie die Welt in 142 Jahren noch immer nicht gerettet hat. Aber sie kann auch ein kleines Wunder produzieren. Der Parteitag in Karlsruhe ereignete sich als stille Sensation.
Abschied und Neuanfang vollzogen die Sozialdemokraten in einer überwältigenden Unkompliziertheit. Der Abschied von Bundeskanzler Gerhard Schröder: voller Wärme und hoher Achtung. Der Abschied vom Vorsitzenden Franz Müntefering: dankbar, aber nicht pathetisch, weil er Vizekanzler und Minister wird. Die Begrüßung von Matthias Platzeck: voller Vertrauen. Für eine Partei, die das Hadern als Instrument des Bewahrens erfunden und stetig weiterentwickelt hat, war dieser Parteitag wirklich eine Art Wunder. 99,4 Prozent wählten Platzeck. Ein solches Ergebnis hat sogar Willy Brandt knapp verfehlt.
Wäre man Sozialdemokrat, würde man eventuell pessimistisch deuten: Die SPD musste aus der Krise, die Reihen schließen und das Übliche. Unüblicherweise aber haben die Delegierten einen neuen Typus Sozialdemokrat gewählt und eine neue Sozialdemokratie, die Platzeck aus dem Vermächtnis von Schröder herausformuliert hat. Regieren, reformieren und sozial ausgleichen. Verändern und bewahren. Diskutieren und entscheiden.
Damit ist diese Partei, die stets die Schwächeren, die Minderheiten verteidigt hat, auch gedanklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen, in der sie sich längst bewegt. Platzeck hat diese neue alte Mitte für die SPD definiert: Alle.
Das ist ein großer Aufbruch für eine Partei, die nie wirklich erwachsen werden wollte, der das Establishment immer unheimlich geblieben ist. Eine Laune des Schicksals wollte es, dass ein so jungenhafter Mann wie Matthias Platzeck die SPD zur Reife führen soll. Aber eine frühere Laune des Schicksals wollte es auch, dass ein ausgewachsener Hallodri die Partei in die Verantwortung und zu Reformen geführt hat. Schröder und Platzeck, das könnte später die Rückschau zeigen, haben die Partei so geöffnet, wie Willy Brandt es einst gewollt hat.
Weil aber die SPD bekanntermaßen kompliziert ist, muss man abwarten, ob sie die Chance nutzt, die ihr ein Vorsitzender anbietet, der mit Natürlichkeit besticht und offenkundig in ostwestdeutscher Weise gesamtgesellschaftlich zu denken vermag.
Rückfragen bitte an:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Telefon: (0201) 804-0
Email: zentralredaktion@waz.de
Original-Content von: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, übermittelt durch news aktuell