Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Reformappell im Herbstgutachten: Sehen die Neuliberalen alt aus? - Kommentar von Ulf Meinke
Essen (ots)
Mehr Eigenverantwortung - es ist eine bekannte Forderung, die Deutschlands führende Wirtschaftsforscher in ihrem Herbstgutachten formulieren. Und doch klingt der Ruf nach einem Rückzug des Staates seltsam neu angesichts der großen Armutsdebatte dieser Tage. Über Monate hinweg beherrschte ein neoliberaler Zeitgeist die gesellschaftliche Diskussion. Als modern galt, was weniger Staat und mehr Markt versprach. Mit einem entsprechend freiheitlichen Regierungsprogramm stellte sich Angela Merkel den Wählern. Doch die votierten - vielfach verängstigt durch Hartz IV und Flat Tax - lieber für eine Politik, die den Wohlfahrtsstaat nicht aufgibt. Die Folge sind in der Großen Koalition gefesselte Volksparteien.
Im Auf und Ab der Meinungen hat nun also das Soziale an der Marktwirtschaft Konjunktur. Nicht nur NRW-Ministerpräsident Rüttgers setzt durchaus mit Erfolg auf die Strategie, erster Arbeiterführer des Landes zu sein. Die Gewerkschaften wittern Morgenluft, rechnen mit den "Marktradikalen" ab und wettern gegen gierige Manager, die trotz millionenschwerer Gewinne munter Jobs vernichten. Die Politik entdeckt derweil die "Unterschicht". Sieht der Neuliberalismus etwa alt aus?
Beinahe scheint es, als werde im Herbstgutachten der Wirtschaftsinstitute eine Außenseiterposition formuliert. Als "Grundprinzip guter Wirtschaftspolitik" gilt dort: Eingriffe des Staates sollten unterbleiben, wo der Markt bessere Lösungen liefert. Damit verbunden ist eine tief greifende Kritik an den Reformprojekten der Großen Koalition. Die Pläne zur Reform der Unternehmensteuern, zur Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik blieben "weit hinter dem zurück, was zur deutlichen Verbesserung der Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen erforderlich wäre", schreiben die Ökonomen. Sind die Wissenschaftler etwa längst einsame Rufer für Reformen?
Nein, denn ihre Konzepte sind kein Widerspruch zur neuen Akzentuierung des Sozialen. Denn Wirtschaftswachstum ist die Grundlage neuer Arbeitsplätze. Mehr Jobs wiederum sind eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Vorraussetzung für die Vermeidung einer "Unterschicht". Die Politik darf sich also nicht damit zufrieden geben, die Probleme nur zu schildern - sie muss auch Reform-Lösungen bieten und durchsetzen. Gefordert ist eine klare wirtschaftspolitische Linie, die sich weder an reinen Markt- noch an simplen Staatsideologien orientiert. Ein genereller Reformstopp jedenfalls ist kein geeignetes Rezept gegen die "neue Armut".
Rückfragen bitte an:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Zentralredaktion
Telefon: (0201) 804-0
zentralredaktion@waz.de
Original-Content von: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, übermittelt durch news aktuell