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WAZ: Der Trend 2006: Politik-Verdruss Rasen im Hamsterrad - Leitartikel von Ulrich Reitz

Essen (ots)

Was der Politik am meisten gefehlt hat im
ablaufenden Jahr? Ganz einfach: Zeit.
Reden wir nicht von Muße. Dazu ist das politische Geschäft zu 
hart, zu wenig feuilletonistisch, experimentell, kreativ. Aber ist 
nicht genau dies das Problem? Anders gefragt: Wieviel Kapitulation 
steckt dahinter, wenn sich Spitzenpolitiker ihre sechs, ja sieben 
Tage die Woche mit Terminen, nun ja - zumüllen lassen? Zumüllen 
deshalb, weil das allermeiste einer Prüfung auf Angebrachtheit nicht 
standhalten würde. Treffen mit ausländischen Staats- und 
Regierungschefs, bei denen eine Agenda abgehakt wird, die 
Spitzendiplomaten zuvor minutiös festgelegt haben. Gremiensitzungen, 
die, wenn überhaupt, dann ausschließlich sozialtherapeutische 
Funktion haben. Rhetorisch dahingehaspelte Öffentlichkeitsauftritte, 
weil "man" das als Politiker eben so macht, will man dem Vorwurf 
entgehen, eine von der "Basis" (oft zynisch verwendetes Ersatzwort 
für Funktionär, der eben nicht so gut war, um es weiter nach oben zu 
schaffen) abgehobene Existenz zu führen.
Böse Frage: Wenn sich Politik keine Zeit nimmt, ist dies 
vielleicht eine absichtsvolle, also selbstbestimmte Entscheidung? 
Wieviel von dieser ganzen Hetze ist, war im letzten Jahr: Flucht? Wer
sich Zeit nimmt, kann durchdringen, was er tut. Er wird dann 
vernünftigerweise nicht mal links, mal rechts regieren, sondern 
richtig (in dem Punkt hatte Schröder ja Recht). Wer sich Zeit nimmt, 
kann, muss aber eben auch, die Dinge dem Volk erklären. Hieran hat es
mit Abstand am meisten gefehlt. Kunststück: Wieviel von dem, was da 
beschlossen wurde, entzieht sich seiner Erklärbarkeit? Die 
Mechanismen der Verblendung gehen inzwischen so weit, dass ein 
Bundespräsident, der voller Sorge um das Gemeinwesen auf diesen 
grundsätzlichen Missstand aufmerksam wird, wahlweise belächelt oder 
mit Empörung belegt wird.
Der Megatrend des Jahres ist Retro, er stammt aus den Siebzigern:
Politikverdrossenheit. Damals konnte man es fast nicht mehr hören. 
Heute ist das wieder so. Und der Politik fällt wenig bis nichts ein, 
wie sie dem Phänomen begegnen könnte, dass sich immer mehr Menschen, 
wahrscheinlich so viele wie in der bundesrepublikanischen Geschichte 
noch nicht, von ihr abwenden. Und die Politik antwortet hilflos, 
indem sie die Stellschraube am Großen Ganzen einen Millimeter weiter 
wuchtet. Die "Zeit" schreibt, unser Lebenstempo habe sich in den 
vergangenen 200 Jahren verdoppelt. Für die Politik ist das ganz 
sicher eine schlechte Nachricht. Der fromme Wunsch fürs nächste Jahr:
Entschleunigung.

Pressekontakt:

Rückfragen bitte an:
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Zentralredaktion
Telefon: (0201) 804-0
zentralredaktion@waz.de

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