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WAZ: Pflegereform auf der Kippe: Es gibt keine Ausreden - Leitartikel von Stefan Schulte

Essen (ots)

Dass Menschen verarmen, wenn sie auf fremde Hilfe
angewiesen sind, steht einem Sozialstaat nicht gut an. Aus diesem 
Grund schuf Norbert Blüm 1995 die Pflegeversicherung. Bis dahin war 
alsbald ein Sozialfall, wer ins Pflegeheim musste. Mit dem frischen 
Geld aus der jüngsten deutschen Sozialversicherung wurden damals 
viele alte Menschen aus dieser Armutsfalle befreit.
Heute bezieht wieder jeder dritte Heimbewohner Sozialhilfe. Das 
Geld aus der Pflegekasse reicht nicht mehr. Seit 1995 wurden die 
Sätze nicht erhöht. Und die Demenzkranken hat man von Anfang an 
vergessen. Die Politik weiß und sagt seit vielen Jahren, dass es so 
nicht weitergehen kann. Immer mal wieder aufgeschreckt durch Berichte
über wundgelegene, ans Bett gefesselte Alte, die zur Kaffeezeit ihr 
Abendessen verabreicht kriegen, verspricht sie Besserung. Und drückt 
sich doch wieder.
Rot-Grün hat eine Reform versprochen und letztlich nur ein paar 
Euro mehr von den Kinderlosen genommen. Die Merkel-Regierung hat die 
Pflegereform für besonders eilig erklärt und sich in ihren 
Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie bis Mitte 2006 stehen soll. 
Mitte 2007 ist das Kanzleramt nicht sicher, ob es in dieser 
Legislatur noch was wird. Vielleicht schaffen es Union und SPD noch, 
andernfalls würden ihnen viele Gründe einfallen, warum der Partner 
die Reform blockiert hat. Dies freilich wäre ein Armutszeugnis cum 
laude.
Wenn die Koalition auch nur eine Sekunde an ihren Auftrag denkt, 
darf sie sich diese Blöße nicht geben. Keine Reform ist bereits im 
Koalitionsvertrag so klar umrissen wie die der Pflege. Man war sich 
einig, den Demenzkranken zu helfen. Man war sich einig, dass mehr 
Geld ins System muss. Auch die von der Union geforderte private 
Zusatzversicherung steht im Koalitionsvertrag. Als eine Art 
Pflege-Riester könnte die SPD ihr zustimmen. Gestritten wird wie bei 
der Gesundheit über den von der SPD geforderten Solidarbeitrag der 
Privatkassen. Nur: Auch der steht für die Pflege im 
Koalitionsvertrag. Es gibt also keine Ausreden.
Bei der Pflege, das muss leider immer wieder betont werden, geht 
es nicht nur um die Probleme in 20 oder 30 Jahren. Das Geld fehlt 
heute. Es gilt jetzt Menschen zu helfen, die es bitter nötig haben. 
Es wäre beschämend und Ausdruck eines gesellschaftlichen Versagens, 
vergäße man dieses unstrittige Ziel über den Streit ums Geld. Viel zu
lange schon lassen wir Menschen im Stich, die unser Land reich 
gemacht haben. Und wir lassen jene Menschen im Stich, die sie gerne 
besser pflegen würden.

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zentralredaktion@waz.de

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